Dialog-Konstruktiv Blog
Dialog Konstruktiv hat kein vorgegebenes Thema, sondern generiert diese stets aus dem Moment. Er lotet gerne die Möglichkeit aus, privat erlebte Muster auf eine gesellschaftliche Ebene zu übertragen. Oder umgekehrt – gesellschaftliche Relevanz im eigenen Verhalten zu erkennen. Mir scheint, der Dialog entfaltet dadurch eine zivilisationsfördernde Wirkung.
Für die Einladung zum monatlichen Dialog-Konstruktiv notiere ich jeweils ein paar Reflexionen zu Aspekten des zivilen Zeitgeschehens, die für mich einen aktuellen oder allgemeinen Bezug zum Bohmschen Dialog haben.
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Februar 2025
Hat der Fortschritt einen Preis? Part. 2
Im ersten Teil habe ich die Analyse des Soziologen Andres Reckwitz zusammengefasst, wie durch eine komplexe Kombination ökonomischer und (hypo-)kultureller Faktoren eine relevante Grösse von sich ohnmächtig fühlenden Bürgerinnen und Bürgern entstehen konnte. Reckwitz untermauert diese Analyse mit einer Theorie gesellschaftspolitischer Veränderungsdynamiken, die Anhaltspunkte für die weitere Entwicklung bietet. Die Theorie begnügt sich nicht mit einem Narrativ sich folgenden Kausalitäten (dass z.B. die Globalisierung im globalen Norden eine Deindustrialisierung auslöst, die zu Arbeitslosigkeit und entsprechenden sozialen Spannungen führt usw.), sondern fragt nach den affektiven Gesellschaftsbedürfnissen, die den Kausalitäten zugrunde liegen (z.B. mehr Freiheit, eine klare Identität, ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl usw.).
Reckwitz gliedert die neuere Geschichte (Moderne) in Phasen, die er Paradigmen nennt. Paradigmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie antagonistischen oder ergänzenden Charakter haben (para [grich.] ergänzen; deigma [grich.] zeigen). Seine Theorie basiert auf der Beobachtung, dass sich Gesellschaften nicht nur ständig verändern (linke Regierungen wechseln sich mit rechten ab), sondern dass unter bestimmten Bedingungen ein grundlegender Richtungswechsel stattfindet. Dann sind die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse so dominant, dass sowohl linke als auch rechte Parteien Antworten auf die phasenimmanenten Zwänge finden müssen. Die erste Wahl von Donald Trump sowie der Brexit haben für Reckwitz die Anzeichen verstärkt, dass wir uns erneut in einem Paradigmenwechsel befinden (nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine sprach Olaf Scholz von einer «Zeitenwende»).
Die bisherigen Paradigmenwechsel können als Freiheitsparadox verstanden werden, da sie stets zwischen den Poolen «Regulierung» und «Liberalisierung» pendelten. Konkret erforderte die Nachkriegszeit zunächst eine starke Regulierung, um die soziale Ordnung wiederherzustellen (z.B. Roosevelts New Deal). Sie gipfelte jedoch in einem als «korporatistisch» bezeichneten Konservatismus (z.B. Adenauer und de Gaulle), der zunehmend als autoritär empfunden wurde. Daraus entwickelte sich das drängende Bedürfnis nach Liberalismus und Emanzipation bis hin zu individueller Selbstverwirklichung und allgemeiner Diversität – auf soziokultureller Ebene initiiert durch die 68er-Bewegung. Aber auch die Wirtschaft forderte De-Regulierung und Freihandel.
Das jüngste Paradigma konnte also wechseln, weil parallel sowohl die eher linken soziokulturellen als auch die eher rechten ökonomischen Bedürfnisse nach Öffnung und Freiheit angegangen wurden. Da jedoch beide «Liberalismus-Stränge» ihre Freiheitsbedürfnisse maximierten, entwickelte sich auf der jeweiligen Gegenseite ein zunehmender Überdruss. So reduzierte der globalisierte Handel zwar zunächst die extreme Armut im globalen Süden, führte anderseits aber zum Neoliberalismus und damit beispielsweise zu einer starken Umverteilung und Konzentration von Vermögen, oder 2008 zum Crash des US-Immobilienmarktes mit globaler Banken- und Arbeitsmarktkrise. Auf der anderen Seite führten Emanzipation, Geschlechterdiversifizierung (Genderwahn), Migration, Globalisierung und Akademisierung zu Gefühlen des Identitäts- und Statusverlustes. Der Liberalismus der letzten Jahrzehnte scheint an sein Ende gekommen zu sein. Die Infragestellung oder gar Aussetzung internationaler Wertevereinbarungen (UN-Sicherheitsrat, Flüchtlingskonvention, Weltgesundheitsorganisation, Internationaler Strafgerichtshof, Pariser Klimaabkommen etc.) sind deutliche Anzeichen dafür, dass nationale Regulierungskompetenzen zurückgeholt werden.
Für Reckwitz bietet der aktuelle Populismus nicht die Stabilität eines neuen Paradigmas, weil seine Lösungen zu retrospektiv und unterkomplex sind. Diese Argumentation beruhigt mich nur bedingt, denn auch der Totalitarismus des letzten Jahrhunderts bot aus den gleichen Gründen kein neues Paradigma, sondern mit Gewaltanwendung eine schreckliche «Übergangsphase».
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Januar 2024
Hat der Fortschritt einen Preis?
Nach den US-Präsidentschaftswahlen im vergangenen November schrieb Raphaela Birrer, Chefredaktorin des Tages Anzeigers, Trumps Kampagne habe Bürgerinnen und Bürger angesprochen, die sich von der Politik und den «Mainstream-Medien» abgehängt, nicht mehr vertreten und deshalb ohnmächtig fühlten. Doch woher kommt dieses scheinbar so mächtige Ohnmachtsgefühl?
Mit einer Literaturgruppe lese ich gerade ein Buch des deutschen Soziologen und Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz – «Das Ende der Illusionen» (2019). Aus den Literaturhinweisen wird deutlich, dass Zeitanalytiker seit über 15 Jahren einen gesellschaftlichen Umbruch beschreiben, der nun als «Rechtsruck» und Renaissance der Autorität immer bedrohlicher wird. Der Metabefund klingt zunächst noch verheissungsvoll: Ab etwa 1970 habe sich die damalige «industrielle Moderne» in die sogenannte «Spätmoderne» gewandelt. Doch die Charakterisierung der beiden Phasen skizziert das sich anbahnende Drama: Die «industrielle Moderne» sei durch Ober-, Mittel- und Unterklassen strukturiert gewesen. Dabei prägte die Mittelklasse die Gesellschaft durch ihren quantitativen Umfang sowie ihre – im Vergleich zu heute – hohe Homogenität. Diese Mittelklasse differenziere sich aber aufgrund driftender sozioökonomischer Faktoren immer deutlicher in drei Blöcke – neben der bisherigen Mittelklasse zusätzlich in eine deprivilegierte prekäre Mittelklasse sowie eine privilegierte «hyperkulturelle» Mittelklasse. [mit Bezug auf Pierre Bourdieus Theorie der sozialen Ungleichheiten verwendet Reckwitz explizit den Klassenbegriff – das Schichtmodell fokussiere zu statisch auf ökonomische Unterschiede und vernachlässige die kulturellen Dimensionen wie Bildung, Beziehungen, Werte etc.]
Der Begriff «Hyperkultur» steht für einen Wandel des Kulturbegriffs – vom traditionellen Sammelbegriff für die verschiedenen Kunstsparten (Musik, Malerei, Film etc.) hin zu einem erweiterten Kulturverständnis, das auch Identitäten und Sinnstiftung umfasst (Popkultur, Volkskultur, Wohn- und Esskultur, Lifestyle, Unternehmenskultur etc.) Als treibende sozioökonomische Faktoren für diesen Wandel sind zu nennen:
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Die Bretton-Woods-Beschlüsse von 1973, welche eine Deregulierung der globalen Finanzwirtschaft ermöglichten. Der daraus resultierende Neoliberalismus führte zu einer massiven Umverteilung von Investitionen, die mitunter zum
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Zusammenbruch der Sowjetunion führte (1989). Im industrialisierten Westen entwickelte sich daraufhin eine euphorische Erwartungshaltung eines entspannten und vielversprechenden Fortschritts.
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Der Welthandel dynamisierte sich, das folgende Wirtschaftswachstum ermöglichte privaten Konsum und Hedonismus.
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Die einsetzende Digitalisierung steigerte einerseits die Produktionseffizienz und potenzierte andererseits kosmopolitische Befindlichkeiten.
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Die mit Globalisierung und Digitalisierung verbundene Komplexitätssteigerung erforderte eine zunehmende Akademisierung.
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Die Befreiung von Autoritäten und sozialen Zwängen (Liberalisierung) ermöglicht die Ausdifferenzierung individueller Identitäten (Individualisierung).
Diese Entwicklung war so umfassend und dominant, dass eine Art neuer Zwang entstand, an den Segnungen der Hyperkultur teilzuhaben. Ein Teil der Gesellschaft empfand die neuen Möglichkeiten jedoch als befremdlich und übergriffig. Entsprechend fühlten sich die Menschen «kolonisiert» und wollten oder konnten sich dieser Euphorie mental nicht anschliessen. Sie kapselten sich zunächst ab, um dann einen deutlichen Groll, wenn nicht gar Hass gegen die selbstgefälligen Neoprivilegierten zu entwickeln. Inzwischen zeigt sich, dass der vermeintliche Kollateralschaden dieses Kulturwandels kein Minderheitsphänomen ist. Der Anteil von Bürgerinnen und Bürgern, die allenfalls partiell an der Hyperkultur partizipieren, sich aber überwiegend als ohnmächtig wahrnehmen, scheint inzwischen eine Mehrheit auszumachen.
Wird der Zauberlehrling die Geister, die er rief, rechtzeitig wieder los?
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November 2024 – im Rahmen der «Langen Nacht der Philosophie»
Von der Divergenz zum kollektiven Bewusstsein
Die Individualisierung als starkes soziales Kulturprinzip scheint mit dem traditionellen Mindset zu immer kompromissloserem Pluralismus zu führen. Dem resultierenden Gefühl der Überkomplexität setzen polarisierende Populisten simple Vereinfachungen entgegen. Doch just in der Vielfalt stecken umfassende Lösungen.
Die meisten Menschen gehen bei Lösungsfindungen davon aus, dass sich «die beste Idee» wie bei einem darwinistischen Evolutionsprozess durchsetzen wird. Dieses unbewusste Mindset nennt sich «Konvergenz», weil alles auf eine Lösung zuläuft (lat. convergere: annähern, zusammenlaufen). Bildlich entspricht es einem Berg, auf dem von herunterfallenden Ideen nur eine einzige Platz hat. Doch solcheLösungen sind häufig instabil, weil sie die unterlegenen Ideen zu wenig integrieren. Im Gegensatz dazu bildet die «Divergenz» eine Schale, die alle herunterfallenden Ideen aufnimmt (lat. divergere: auseinanderstreben). Ihre Lösungen sind umso stabiler, je divergenter die Ausganspositionen sind.
Der Physiker David Bohm (1917-1992) hat das Divergenzmodell erforscht und methodische Bedingungen formuliert, damit sich an Stelle der evolutionären Konkurrenz ein kollektives Bewusstsein entwickeln kann. Statt die beiden Modelle zu diskutieren, werden wir einen Dialog zu diesem Spannungsfeld führen.
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Oktober 2024
Sind Steuerhöllen die neue Superjacht?
Verteilungsgerechtigkeit scheint für mich sehr wichtig zu sein – immer wieder werde ich von Berichten zu diesem Thema angezogen. Eine Anfrage im Zürcher Kantonsparlament führte kürzlich zu einer Antwort der Regierung, die zu einer originellen Hypothese verleitet.
To remember – der französische Ökonom Thomas Piketty hat 2014 in seiner Studie „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ gezeigt, dass die steuerlichen Rahmenbedingungen seit Jahrzehnten so liberalisiert wurden, dass grosse Kapitalien im Vergleich zu unteren Einkommen und Vermögen überproportional profitiert haben. Das hat zu einer steten Umverteilung von unten (Mittelschicht) nach oben (Investoren) geführt. Diese Zunahme der Ungleichheit bezüglich Kapitalverteilung nährte die These, dass schwindende Kaufkraft und die damit verbundene Perspektivlosigkeit von vielen Menschen als Ungerechtigkeit empfunden wird. Autokratische und antidemokratische Politiker haben das Potenzial erkannt und erzielen grosse Wahlerfolge, indem sie diese Frustrationen – in Kombination mit der Migrationsproblematik – bewusst bewirtschaften. Doch trotz Gefährdung der Demokratie wehren sich bürgerlichen Parteien gegen die Rücknahme dieser Umverteilung mit dem Argument, dass die Reichen und Superreichen aufgrund unserer Steuerprogression bereits an der Grenze ihres Wohlwollens seien und bei weiterer Verschärfung der Progression an steuergünstigere Orte abwandern würden, was negative Folgen für die Gesamtbilanz hätte. Drei FDP-Kantonsräte wollten dieses Szenario belegen und verlangten von der Regierung konkrete Zahlen über die Abwanderung von superreichen Steuerzahlern. Nun zeigte sich aber, dass zwischen 2013 und 2022 wohl 30 Personen mit einem Vermögen von über 50 Millionen weggezogen, während gleichzeitig 43 Personen mit einem entsprechenden Vermögen zugezogen!
Könnte es also sein, dass die Superreichen ihren Status neben Luxusgütern immer seltener mit einem Wohnsitz in Discount-Steueroasen zum Ausdruck bringen, sondern sich im Gegenteil lieber durch ein Leben an einem teuren, aber coolen Orten profilieren?
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September 2024
Sind emotionale Menschen authentischer?
Nachdem Sanija Ameti das Zielbild ihrer Schießübung (ein Bild von Maria mit Einschusslöchern) in den sozialen Medien gepostet hat, wurde mir wieder einmal bewusst, was Daniel Kahneman mit „schnellem Denken und langsamem Denken“ gemeint haben könnte. Ich reagierte reflexartig nicht nur mit ungläubigem Staunen, sondern verurteilte die Politikerin und Kommunikationsexpertin als naiv und unprofessionell. Obwohl ich nicht in die Empörungswelle der „Schnelldenker“ einstimmte, dauerte es eine Weile, bis ich Ametis Entschuldigung akzeptieren und wieder zwischen Tat und Person unterscheiden konnte – schließlich habe ich auch schon Mist gebaut und bin somit nicht der Unschuldige, der den ersten Stein werfen darf.
Kahneman spricht von zwei Gehirnsystemen mit unterschiedlichen Aufgaben. Die evolutionär ältere Struktur muss Situationen nach ihrem Bedrohungspotential einschätzen und entsprechend über Emotionen wie Wut, Ärger, Hass, Ekel etc. schnelle Reaktionen auslösen. Das zweite System muss komplexere Situationen analysieren und benötigt dafür mehr Zeit und Energie. Für die Bewältigung einer aktuellen Situation ist das erste System daher wesentlich ökonomischer. Dieser unbewusste, körpergesteuerte Sparimperativ dient häufig als Erklärung dafür, warum die Kombination von einfachen Botschaften und emotionaler Rhetorik z.B. bei Wählerinnen und Wählern besonders viel Zustimmung auslöst.
Es gehört wohl zur menschlichen Widersprüchlichkeit, dass einfache und ungehobelte Äusserungen einerseits viel authentischer wirken als durchdachte und differenzierte Feinheiten, andererseits sich kaum jemand auf das sogenannte «Reptiliengehirn» reduzieren lassen möchte.
Im Dialog wird die Gesprächsdynamik bewusst verlangsamt. So kann ich Impulse aus dem ersten System als emotionale Grundpositionierung würdigen und bewusst ergänzende Impulse aus dem zweiten System abrufen. Häufig geht es dabei um die Frage, was der Primärimpuls über mich aussagt und in welcher Form ich ggf. darauf reagieren möchte. Ziel ist es, auf diese Weise ein drittes System des «gemeinsamen Denkens» zu ermöglichen.
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Sind wir eine Neidgenossenschaft? Part 2
Bei meinem letzten Text hatte ich mich mit der «Neidgenossenschaft» beschäftigt. Es ging mir um den mantramässig vorgebrachten Neidvorwurf von vermögenden Menschen, wenn politische Vorstösse eine «sozialere» Kapitalverteilung fordern. Ihr Vorwurf basiert auf der These, dass alle ihres Glücks eigener Schmied seien. Und um zu diesem «Glück» in Form von Geld zu gelangen, sei vor allem eine hohe Leistungsbereitschaft nötig. Den Leistungsappell zu ignorieren und trotzdem Umverteilung zu verlangen, sei ein Ausdruck von Neid.
Zwar hat unter anderem bereits der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit «die Illusion der Chancengleichheit» (1964) nachgewiesen, dass strukturelle Ungerechtigkeiten (Herkunft, Bildung, Geschlecht etc.) das Schmieden des eigenen Glücks entscheidend einschränken. Doch das Leistungsargument fasziniert mich, weil es für viele marginalisierten Menschen das elementarste Narrativ darstellt. In meiner Tätigkeit als Jobcoach begegne ich oft Menschen in sehr prekären Situationen. Besonders Klient:innen mit Migrationsbiografien nennen bei Frage nach ihrem Lieblingsfilm signifikant häufig Geschichten von «Nobodies», denen dank grosser Willensstärke und Leistungsbereitschaft ein bedeutender gesellschaftlicher Aufstieg gelang (z.B. Rocky, The Pursuit of Happyness, Joy, The Wolf of Wall Street). Erfolgreiche Fussballer, Musikerinnen oder Unternehmer sind Vorbilder in der Realität, kämpfen ihr zentrales Lebensmotto.
Doch wenn privilegierte Personen, die «weit gekommen» sind, ihren Erfolg mit Leistungsbereitschaft rechtfertigen, stellt sich mir jeweils die Frage, warum sie es nicht noch weiter gebracht haben. Ist es möglich, dass selbst diese Personen irgendwann an eine gläserne Decke stossen, die ihnen trotz höchster Leistungsbereitschaft Grenzen setzt? Und ist das Neidargument allenfalls eine Übertragung eigener Empfindungen auf andere, weil sie mit ihren eigenen Grenzen nicht im Frieden sind und andere für deren grösseren Erfolge beneiden?
«You can get it if you really want» ist zwar nicht ganz falsch, aber halt auch nicht ganz richtig. Denn der Umkehrschluss impliziert, dass einfach zu wenig Leistungsbereitschaft aufbringt, wer keinen (materiellen) Erfolg erreicht. Doch Bourdieus Untersuchungen zur strukturellen Chancenungleichheit zeigt, dass Erfolg nur selten eine Frage des Wollens, sondern des Könnens ist. In meiner Wahrnehmung geben die meisten Menschen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Bedingungen und Leistungsressourcen ihr Maximum, um Anerkennung und Erfolg zu erreichen. Was als Neid diffamiert wird, ist wohl eher das Bedürfnis, statt für individuellen Erfolg lieber für mehr allgemeine Chancengerechtigkeit und Befähigung zu kämpfen.
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August 2024
Sind wir eine Neidgenossenschaft? Part 2
Bei meinem letzten Text hatte ich mich mit der «Neidgenossenschaft» beschäftigt. Es ging mir um den mantramässig vorgebrachten Neidvorwurf von vermögenden Menschen, wenn politische Vorstösse eine «sozialere» Kapitalverteilung fordern. Ihr Vorwurf basiert auf der These, dass alle ihres Glücks eigener Schmied seien. Und um zu diesem «Glück» in Form von Geld zu gelangen, sei vor allem eine hohe Leistungsbereitschaft nötig. Den Leistungsappell zu ignorieren und trotzdem Umverteilung zu verlangen, sei ein Ausdruck von Neid.
Zwar hat unter anderem bereits der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit «die Illusion der Chancengleichheit» (1964) nachgewiesen, dass strukturelle Ungerechtigkeiten (Herkunft, Bildung, Geschlecht etc.) das Schmieden des eigenen Glücks entscheidend einschränken. Doch das Leistungsargument fasziniert mich, weil es für viele marginalisierten Menschen das elementarste Narrativ darstellt. In meiner Tätigkeit als Jobcoach begegne ich oft Menschen in sehr prekären Situationen. Besonders Klient:innen mit Migrationsbiografien nennen bei Frage nach ihrem Lieblingsfilm signifikant häufig Geschichten von «Nobodies», denen dank grosser Willensstärke und Leistungsbereitschaft ein bedeutender gesellschaftlicher Aufstieg gelang (z.B. Rocky, The Pursuit of Happyness, Joy, The Wolf of Wall Street). Erfolgreiche Fussballer, Musikerinnen oder Unternehmer sind Vorbilder in der Realität, kämpfen ihr zentrales Lebensmotto.
Doch wenn privilegierte Personen, die «weit gekommen» sind, ihren Erfolg mit Leistungsbereitschaft rechtfertigen, stellt sich mir jeweils die Frage, warum sie es nicht noch weiter gebracht haben. Ist es möglich, dass selbst diese Personen irgendwann an eine gläserne Decke stossen, die ihnen trotz höchster Leistungsbereitschaft Grenzen setzt? Und ist das Neidargument allenfalls eine Übertragung eigener Empfindungen auf andere, weil sie mit ihren eigenen Grenzen nicht im Frieden sind und andere für deren grösseren Erfolge beneiden?
«You can get it if you really want» ist zwar nicht ganz falsch, aber halt auch nicht ganz richtig. Denn der Umkehrschluss impliziert, dass einfach zu wenig Leistungsbereitschaft aufbringt, wer keinen (materiellen) Erfolg erreicht. Doch Bourdieus Untersuchungen zur strukturellen Chancenungleichheit zeigt, dass Erfolg nur selten eine Frage des Wollens, sondern des Könnens ist. In meiner Wahrnehmung geben die meisten Menschen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Bedingungen und Leistungsressourcen ihr Maximum, um Anerkennung und Erfolg zu erreichen. Was als Neid diffamiert wird, ist wohl eher das Bedürfnis, statt für individuellen Erfolg lieber für mehr allgemeine Chancengerechtigkeit und Befähigung zu kämpfen.
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Juni 2024
Sind wir eine Neidgenossenschaft?
Erstmals in der Geschichte der westlichen Staaten geht es einer Generation ökonomisch schlechter als ihren Eltern. Als zentralen Grund nennt der Lausanner Wirtschaftswissenschaftler Daniel Oesch, dass sich das Wachstum der Volkswirtschaft viel zu wenig auf die Löhne ausgewirkt habe, sondern als Kapitalgewinne an Shareholder floss. Das führte bei der Durchschnittsbevölkerung zu einem als ungerecht empfundenen Verlust an Kaufkraft. Die daraus folgende Angst vor Statusverlust wird oft auch als Erklärung für die Wahlerfolge der autoritären rechten Parteien genannt.
Durch Anpassung der Erb- und Vermögenssteuern liesse sich das Ungleichgewicht kompensieren. Die diversen abgelehnten Initiativen zur Änderung der Steuergesetze lassen aber vermuten, dass das medial kultivierte Narrativ einer homogenen «Mittelschicht» noch immer viel Frustpotential absorbiert. Der ETH-Wirtschaftswissenschaftler Michael Graff spricht von einem erstaunlichen Mangel an Klassenbewusstsein. Doch auch dem Klassendiskurs scheint nach wie vor das stetig propagierte Etikett der «Neiddebatte» anzuhaften, schliesslich seien doch alle ihres Glücks eigener Schmied. Wohl gibt es immer wieder Geschichten von erfolgreichen Newcomern. Doch die Publizistin Ciani-Sophia Hoeber entlarvt mit ihrem Buch «Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher» die soziale Durchlässigkeit als Mythos, weil die schwindenden ökonomischen Ressourcen immer mehr Menschen marginalisiere und gesellschaftlich ausschliesse. Der Zürcher Wirtschaftshistoriker Hans-Jochim Voth spricht gar vom Gespenst des wiederkehrenden Feudalismus, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt und somit die Demokratie gefährde.
Das sieht auch Marlene Engelhorn so. Sie empfindet es als ungerecht, dass sie ohne eigenes Zutun über 25 Millionen Euro geerbt hat. Sie engagiert sich für eine gerechtere Besteuerung von Vermögen und hat dazu mit anderen «reichen» Menschen die Initiative «tax me now» lanciert. Marlene Engelhorn beruft sich auf das deutsche Grundgesetz, wonach Eigentum nicht nur geschützt sei, sondern auch zum Wohl der Allgemeinheit verpflichte. Mit der Differenzierung in «Reiche» und «Überreiche» verweist Engelhorn zudem auf ein faszinierendes Skalenphänomen. Der Unterschied zwischen einer Million Franken und einer Milliarde Franken ist für mich sehr abstrakt. Die Bedeutung der Dimension offenbart sich, wenn als Einheit nicht Geld, sondern Zeit steht: eine Million Sekunden entspricht etwa 11,5 Tagen, eine Milliarde Sekunden dagegen über 31 Jahre!
Geht es bei der Versteuerung von Vermögen und Erbschaften um Neid oder um eine «Umverteilung» von unten nach oben, wie der eingangs erwähnte Befund von Daniel Oesch suggeriert? Bruno Fässler, Direktor des Steueramtes der Stadt Zürich, zeigt an einem Beispiel die Mechanik subtiler Kapitalverschiebungen: wenn ich 6 Milliarden erbe und alles in Aktien mit einer durchschnittlichen Rendite von 4% pro Jahr anlege, wird das Vermögen in 10 Jahren selbst dann auf 8,4 Mrd. angestiegen sein, wenn ich von diesem Geld jährlich 40 Millionen verpulvere. Und nach weiteren 10 Jahren haben sich die ursprünglichen 6 Milliarden schon fast verdoppelt. Fässler sagt, grosse Vermögen wirken wie Staubsauger – sie ziehen immer weiteres Geld an. Um Handlungsfelder aufzuzeigen ist ihm der Hinweis wichtig, dass in Amerika nach dem 2. Weltkrieg ein Grenzsteuersatz (Besteuerung von Vermögen, das die oberste Progressionsstufe übersteigt) von über 80% galt.
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Mai 2024
Gibt es eine dark side of the moon?
In einem Tagi-Interview von letzter Woche sprach Jean Claude Junker, Präsident der EU-Kommission von 2014 bis 2019, unter anderem über sein Verhältnis zu Wladimir Putin. Die Beziehung habe er lange als sehr ausgewogen und respektvoll empfunden, doch aus diversen Gründen habe Putin seine Ausrichtung nach und nach verändert. Einige dieser Gründe hätten mit Vorwürfen an den Westen zu tun. Er wolle diese jedoch nicht erläutern, um den Eindruck zu verhindern, Verständnis für den Überfall Putins auf die Ukraine zu haben.
Bedauerlicherweise hat Herr Junker wohl zu häufig die Erfahrung gemacht, dass «Verständnis haben» mit «akzeptieren» gleichgesetzt wird. Mich jedoch interessiert die andere Sichtweise, in diesem Fall das russische Narrativ. Natürlich brauche ich Empathie, um die Logik der anderen Seite nachzuvollziehen. Aber das bedeutet doch nicht, dass ich mich mit der anderen Seite identifiziere.
Auch im Palästinakonflikt beobachte ich, dass die meistens Protagonist:innen ihre Position einseitig darstellen und eigene Verfehlungen kategorisch ausblenden. Die Hamas hatten aus ihrer Sicht zwar gute Gründe für den Angriff auf Israel, allerdings hatten sie auch die Freiheit, ihre Opfer nicht so bestialisch abzuschlachten. Israel wiederum kann sich wohl auf das Selbstverteidigungsrecht berufen, allerdings hat die Geschichte ja nicht erst am 07. Oktober 2023 begonnen.
Und so, wie wir von der Erde aus nur eine Seite des Mondes sehen, können wir so tun, als gäbe es keine andere Seite. Doch für mich werden alle Äusserungen dadurch zu unterkomplexer und indifferenter Propaganda. Auf der Strecke bleibt die Glaubwürdigkeit.
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April 2024
Erlauben Fairnessregeln Ausnahmen?
Der 1972 in Marseille geborene Zinédine Zidanes galt als einer der bedeutendsten Fussballer. 1998 wurde er Europa-Fussballer, und in den Jahren 1998, 2000 und 2003 gar FIFA-Weltfussballer. Doch im WM-Final 2006 gegen Italien liess er sich in der 110. Minute von einem italienischen Gegnerspieler zu einer so groben Tätlichkeit provozieren, dass er sofort des Platzes verwiesen wurde. Die Verlängerung endete 1:1, und die französische Mannschaft verlor danach das Penaltyschiessen. Gross war die folgende Mischung aus Häme und Unverständnis – alle schienen sich einig, dass ein derart hochdotierter Profi sich unter keinen Umständen zu einem Foul mit vorentscheidender Wirkung hinreissen lassen dürfe. Auch mir wurde beim Sport immer wieder eingetrichtert, wahre Stärke zeige sich darin, dass man sich nicht provozieren lasse.
Doch einmal mehr staune ich aktuell über die Selbstverständlichkeit, mit der diese Regel in der Politik nicht nur gebrochen, sondern systematisch ins Gegenteil gekippt werden kann. Ohne die geringsten Skrupel oder Alternativoptionen wiederholen die Medien das Mantra, dass eine bestimmte Aktion einer Kriegsparteri mindestens «symmetrisch» geahndet werden müsse, um sich bezüglich Abschreckung keine Blösse zu geben. Mit anderen Worten – wer sich nicht provozieren lässt, gilt als Schwächling.
Lautet das Fazit an die lieben jungen Sportler und Sportlerinnen somit, dass es als naiv gewertet wird, die Fairnessregeln vom Spiel auf das wirkliche Leben zu übertragen?
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März 2024
Sind Kinder ein Indikator für das Gefühl von sozialer Gerechtigkeit?
Dass die Initiative zur 13. AHV-Rente angenommen wurde, scheint den wirtschaftsliberalen Teil der Schweiz zünftig alarmiert zu haben. Das deutliche Resultat könnte ein weiteres Signal dafür sein, dass ein jahrzehntealtes Dogma ins Wanken gerät: dem Volk gehe es gut, wenn es der Wirtschaft gut gehe. Dieses Narrativ hat bereits 2017 einen Dämpfer erhalten, als die wirtschaftsfreundliche Unternehmenssteuerreform_3 abgelehnt wurde. Denn selbst das Bundesgericht hatte bestätigt, dass 2008 bei der Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform_2 zu wenig klar vermittelt wurde, welch umfangreiche Profite die Wirtschaft auf Kosten der Volkswirtschaft einfahren werde.
Die gesellschaftliche Akzeptanz der Geschichte über das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft basiert allerdings auf einer Plattitüde, denn kaum jemand dürfte der Umkehrung zustimmen, dass es dem Volk gut gehe, wenn es der Wirtschaft schlecht geht. Da inzwischen jedoch ein zunehmender Teil der Stimmberechtigten das Gefühl hat, die Wirtschaft überspanne den Bogen, muss das Verhältnis von Privat- und Volkswirtschaft wohl differenzierter formuliert werden. Zwar fokussieren die Wirtschaftsverbände bei der Beurteilung der AHV-Abstimmung aus strategischen Gründen auf die «egozentrischen Pensionierten, welche den Generationenvertag sabotierten». Doch während der Kampf um die Deutungshoheit des Abstimmungsresultats und die daraus resultierenden Massnahmen noch tobt (z.B. Erhöhung der Mehrwertsteuer oder Einführung einer Kapitaltransaktionssteuer), taucht immer häufiger ein Gespenst auf, welches die Wirtschaft wirklich erschauern lässt – die Demografie, konkret die stetig sinkende Geburtenrate. Denn damit stellt sich die Frage, wie eine Gesellschaft heute strukturiert sein muss, damit es für junge Menschen attraktiv ist, Kinder zu bekommen. Und die Wirtschaft steht vor dem Dilemma, ob sie weiterhin die Profite maximieren will und sich damit den Ast absägt, auf dem sie sitzt. Muss sich die Wirtschaft nach all den steuerlichen Entlastungen wieder stärker an den volkswirtschaftlichen Kosten des gesellschaftserhaltenden Strukturumbaus beteiligen?
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Februar 2024
Was macht den bohmschen Dialog selbstreferenziell?
Ich staune immer wieder, wie häufig der Dialog selbst zum Thema des Dialogs wird. Beim dialogischen Gespräch wird stets sowohl über den Inhalt wie über die Form reflektiert – was wird besprochen, und wie wird gesprochen. Diese Meta-Struktur kann als ungewohntes oder irritierendes Erlebnis empfunden werden und löst oft das Bedürfnis aus, resultierende Fragen oder Erkenntnisse zu formulieren. Besonders die formalen Aspekte ermöglichen den Teilnehmenden, differenzierter wahrzunehmen und dadurch eigene Annahmen sowie Denk- und Sprachmuster zu erkennen und gegebenenfalls zu verändern.
Das selbstreferenzielle Element des dialogischen Gesprächs ist auch für mich immer wieder ein bereicherndes Erlebnis.
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Januar 2024
Ist Relativieren verwerflich?
Mein Dialogangebot hat den Zusatz «konstruktiv», weil es sich auf den Konstruktivismus bezieht. Diese Theorie besagt, dass sich alle Menschen ab dem ersten Lebenstag durch individuelle Wahrnehmungen sowie Bewertung dieser Wahrnehmungen eine eigene, subjektive Wirklichkeit konstruieren. Es mag zwar eine sogenannte Realität geben, den einzelnen Menschen stehen jedoch nur ihre individuell geprägten Abbildungen dieser Realität zur Verfügung. Mein Weltbild ist somit nicht absolut, sondern relativ, da es in Beziehung – also in Relation – zu den Weltbildern anderer Menschen steht. Entsprechend werden Konstruktivist:innen auch als Relativist:innen bezeichnet. Wobei der Begriff von Menschen, die dem Konstruktivismus skeptisch gegenüberstehen, klar negativ konnotiert wird. Denn sie befürchten eine grosse Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn besonders Werte nicht mehr absolut sein sollen, sondern «beliebig» werden.
Nach dem Überfall der Hamas auf Israel stand der Uno-Generalsekretär António Guterres vor einer heiklen Aufgabe – einerseits musste er das unmittelbare Leid der Betroffenen würdigen, anderseits konnte er übergeordnete Konfliktaspekte nicht ausser Acht lassen. Das Magazin «Spiegel» berichtete am 25.10.2023 von einer Sitzung des Weltsicherheitsrates: Guterres verurteilte die Angriffe der islamistischen Hamas erneut aufs Schärfste, diese seien durch nichts zu rechtfertigen. Er sagte aber auch: »Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattfanden«. Mit dem zweiten Teil der Aussage implizierte Guterres, dass es einen Zusammenhang – also eine Beziehung gibt zwischen dem Hamasangriff und der israelischen Palästinapolitik. Er löste damit grosse Empörung aus und wurde des Relativierens bezichtigt, weil er die Gräuel der Hamas mit etwas anderem in Beziehung bringe. Er nehme dem Terrorakt dadurch die absolute und unvergleichliche Einzigartigkeit und schwäche ihn ab. Doch hätte Guterres diese Relativierung nicht gemacht, wäre er von der Palästinensischen Seite als parteiisch diskreditiert worden.
Für mich hat das Relativieren – also das Erwägen von Beziehungen – sowohl im kleinen persönlichen wie im grossen politischen Rahmen, eine differenzierende Qualität. Sie gibt mir die Möglichkeit, Gewalt zu verurteilen, ohne Partei zu ergreifen.
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November 2023 – im Rahmen der «Langen Nacht der Philosophie»
Wie populistisch bin ich?
«Zwiespältige und grobschlächtige Draufgänger*innen sind für mich nicht nur dramaturgisch, sondern auch privat attraktiv», proklamierte einst eine Regisseurin. Denn Emotion, Provokation und Exzentrik seien das Salz der Suppe. Doch sind in dieser Logik nicht auch Populisten wie Donald Trump prickelnd? Und wann kippt alltägliche Nonkonformität ins Toxische?
Einerseits scheinen uns gewisse Verhaltensweisen zu faszinieren, die auch typisch sind für populistische Personen. Anderseits will ich nicht beteiligt sein, wenn Populismus die Gesellschaft spaltet und Solidarität verhöhnt. Doch wie kann ich mich für die Ambivalenz dieser Faszination sensibilisieren und nicht in unbewussten Opportunismus kippen?
Der Physiker und Philosoph David Bohm (1917 – 92) suchte nach Bedingungen, unter denen sich gesellschaftliche Spannungsfelder kooperativ statt kompetitiv bewältigen lassen. Sein dialogisches Gruppengespräch orientierte sich an der ursprünglichen Bedeutung von dia-logos (im Sinn von durchfliessende Worte). Der Managementberater W. Isaacs schrieb auf Grund seiner Dialogerfahrungen von der «Kunst des gemeinsamen Denkens».
Der Bohmsche Dialog erreicht vertrauensbildende Offenheit durch formale Regeln. Sie ermöglichen ein wertneutrales Wahrnehmen fremder Positionen, was relativierend (Beziehung schaffend) auf die eigene Position zurückwirkt.
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Oktober 2023
Ist Friede ein relativierender Prozess?
Die Nachrichtensendung Rendez-vous am Mittag von SRF1 hat sich am 20.10.2023 der Frage gewidmet, ob ein jüdisch-palästinensischer Dialog noch möglich sei. Dabei hat ein Schweizer Rechtsanwalt aus Basel erzählt, wie sich seine jüdische Familie in den 90er-Jahren mit einer palästinensischen Familie zum Gespräch mit gemeinsamem Essen getroffen habe. Auslöser war die Einsicht, eine Meinung zu einem Konflikt zu haben, ohne jemals mit einem Vertreter der anderen Seite gesprochen zu haben. Als Gewinn des Austausches nannte er die Veränderung der eigenen Weltsicht bei den Teilnehmenden – einerseits, wenn sie dem Gegenüber ohne Unterbrechung bei der Schilderung ihres jeweiligen Narratives zuhörten, anderseits bei der Schilderung der eigenen Position die Geduld der anderen beim Zuhören zu erfahren.
Das unterbrechungsfreie und damit geschützte Sprechen sowie das geduldige Zuhören sind Elemente, die ich beim Bohmschen Dialog explizit kultiviere.
Dass der Dialog aber nicht nur Gewinn, sondern auch Risiko sein kann, erlebten beide Gruppen. Denn ein Teil ihrer jeweiligen Community verurteilte jegliches Differenzieren als Relativierung und damit als «Verweichlichung». Eine klare Positionierung in Recht und Unrecht würde dadurch obsolet. Doch gibt es das Gefühl von Verletzung und Ungerechtigkeit nicht auf beiden Seiten?
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September 2023
Ist der Bohmsche Dialog kreativ?
Die uns wohl vertrauteste Gesprächsform ist die Diskussion. Sie beruht auf dem Konzept der Konvergenz. Das heisst, unterschiedliche Positionen nähern sich an, bis eine «beste Position» resultiert. Bei der Diskussion passiert das durch die Überzeugungskraft des besseren Argumentes. Bildlich hat die Konvergenz die Form einer Pyramide, und «das beste Argument» bildet oben die absolute Spitze. Konvergenzprozesse verlaufen kompetitiv, weil die «weniger guten Argumente» wegfallen. Der Erfolg der Diskussion beruht darauf, dass sie im Idealfall ein klares Resultat erzeugt, mit dem sich alle identifizieren können. Der Prozess kann allerdings gestört werden, wenn beispielsweise starke Machtansprüche hinter einzelnen Positionen stecken. Rhetorische Tricks werden dann wichtiger als argumentative Redlichkeit.
Das Konzept des «besseren Argumentes» war für mich lange so selbstverständlich, dass ich erst durch die Entdeckung des Bohmschen Dialogs realisierte, dass es überhaupt eine Alternative gibt. Bildlich steht beim Konzept der Divergenz die Pyramide auf der Spitze und öffnet sich wie ein Sammelbecken nach oben. Das heisst, die unterschiedlichen Positionen sind gleichwertig und müssen sich somit nicht gegen andere Positionen qualifizieren. Typischerweise arbeitet die Kreativitätstheorie mit der Divergenzmethode, beispielsweise beim Brainstorming. Gesucht werden dabei möglichst viele möglichst divergierende Positionen. Weil sie unbewertet nebeneinander stehen, vermögen sie weitere Positionen zu generieren, die zunächst gar nicht bewusst waren.
Weil mir divergentes Denken weniger vertraut ist als konvergentes Denken, dient mir der Bohmsche Dialog als Trainingsfeld, um kreativer zu denken. Häufig kann ich dadurch belastende Lebenssituationen besser bewältigen.
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August 2023
Was bedeutet Dialog?
Die Bedeutung, die ich dem Wort »Dialog« gebe, unterscheidet sich leicht von der allgemein üblichen Definition. Die etymologische Ableitung eines Wortes hilft uns oft, eine tiefere Bedeutung zu erschließen. »Dialog« kommt von dem griechischen Wort dialogos. Logos heißt »das Wort« oder auch »Wortbedeutung, Wortsinn«. Und dia heißt »durch« – nicht »zwei«. Ein Dialog kann von einer beliebigen Anzahl von Leuten geführt werden, nicht nur von zweien. Sogar ein einzelner kann einen gewissen inneren Dialog mit sich selbst pflegen. Wesentlich ist, dass der Geist des Dialogs vorhanden ist. Die Vorstellung oder das Bild, das diese Ableitung nahelegt, ist das eines freien Sinnflusses, der unter uns, durch uns hindurch und zwischen uns fließt. Das macht einen Sinnstrom innerhalb der ganzen Gruppe möglich, aus dem vielleicht ein neues Verständnis entspringen kann. Diese Einsicht ist etwas Neues, das zu Beginn möglicherweise gar nicht vorhanden war. Sie ist etwas Kreatives. Und dieser untereinander geteilte Sinn ist der »Leim« oder »Zement«, der Menschen und Gesellschaften zusammenhält.
David Bohmim, Der Dialog (1996), Seite 32 Quelle: https://doebe.li/p00434
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Juni 2023
Lieber ChatGTP – ist «objektiv» ein Synonym für «neutral»?
Mit Freude und Erstaunen habe ich neulich in meiner Tageszeitung gelesen, dass sich die SRF-Redaktion vom Sozialwissenschaftler Marko Kovic darin schulen liess, «ohne politische Schlagseite» zu berichten. Sieht SRF da Handlungsbedarf? Auslöser für den Kurs sei die bürgerliche «Halbierungsinitiative» (Reduktion der Radio- und TV-Gebühren von heute 335 auf 200 Franken) sowie eine mehr als fünffache Zunahme der Beanstandungen bei der SRF-Ombudsstelle innert weniger als 10 Jahren. So wurde beispielsweise die Beschwerde über den «Arena»-Moderator Sandro Brotz gutgeheissen – er habe das «Sachgerechtigkeitsgebot» verletzt, als er Äusserungen des SVP-Fraktionspräsidenten Thomas Aeschi als rassistisch qualifizierte.
Der Redaktor meiner Tageszeitung hatte auch an der Schulung teilgenommen, dennoch wirkt seine Verwendung der Begriffe «objektiv» und «neutral» auf mich indifferent: mal schreibt er von der «… Schulstunde in politischer Neutralität», dann soll Mark Kovic «… den SRF-Mitarbeitenden zu mehr Objektivität verhelfen».
Aus Effizienzgründen habe ich ChatGPT um eine Differenzierung gebeten:
Obwohl die Begriffe manchmal synonym verwendet werden, haben sie unterschiedliche Bedeutungen. Der Unterschied besteht darin, dass Objektivität auf der Grundlage von Fakten und messbaren Informationen beruht, während Neutralität sich auf die Haltung bezieht, keine persönlichen Vorlieben oder Abneigungen zu haben und verschiedene Perspektiven fair zu betrachten.
Als ich zu bedenken gab, dass häufig von «Fakten» gesprochen werde, obwohl sie auf subjektiver Wahrnehmung und Bewertung beruhen, präzisierte ChatGPT:
Du hast recht. Es ist schwierig, vollständig objektive Aussagen zu machen. Von «objektiven Fakten» können wir sprechen, wenn wir uns auf Informationen beziehen, die auf nachprüfbaren Beobachtungen, Messungen oder Daten basieren. Diese Fakten müssen von verschiedenen Personen unabhängig voneinander überprüft und bestätigt werden können. Obwohl individuelle Interpretationen und Wahrnehmungen vorhanden sind, können wir durch den Einsatz wissenschaftlicher Methoden und evidenzbasierter Ansätze versuchen, diese subjektiven Einflüsse zu minimieren und zu objektiveren Aussagen zu gelangen.
Objektivität scheint somit nichts Absolutes zu sein, sondern allenfalls ein Annäherungsziel. Entsprechend wünsche ich, dass Medien sich von ihrem Objektivitätsanspruch verabschieden und ihre Subjektivität bewusst kultivieren. Das heisst, Medienschaffende sollen nicht schreiben, wie eine Sachlage ist, sondern wie sie diese Sachlage wahrnehmen.
Der Sozialwissenschaftler Mark Kovic schien um die Unzulänglichkeit des Begriffs zu wissen und umgeht die Objektivität elegant. Denn als Ziel nennt er die «Sensibilisierung» dafür, dass wir höchstens einen Teil der Wirklichkeit erfassen können und für unbewusste Verzerrungen (Bias) sehr empfänglich sind.
Diese Subjektivität ist auf Grund unserer sprachlichen Konventionen für die meisten Menschen ungewohnt. Der Dialog dient uns als Übungsfeld.
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Mai 2023
Ist jemand nicht fluid?
In meiner Einladung vor einem Monat schrieb ich von neuen Wörtern, die neue Welten eröffnen können mir. Das gleiche kann mir passieren, wenn ich auf noch ungewohnten Wortkombinationen stosse. So horchte ich auf, als neulich jemand von sich sagte, als buddhistische Christin sei ihre Religion fluid. Obwohl die Fluidität bezüglich Geschlechtszugehörigkeit in meiner Wahrnehmung schon seit einiger Zeit zunehmende Konjunktur geniesst, habe ich mir offenbar noch kaum Gedanken über die erweiterte Anwendung dieses zeitikonischen Begriffs gemacht. Doch jetzt kommt mir zunächst in den Sinn, ob Fussballer des Nationalkaders mit z.B. kosovo-albanischen Herkunftsbezügen bei nationalsensiblen Schweizern wohl auf mehr Sympathie stiessen, wenn sie ihre Heimat einfach als fluid bezeichneten. Wohl kaum, denn die Verfechter der Eindeutigkeit sind natürlich auch bezüglich Fluidität sehr sensibel, sonst müssten sie die Kinder z.B. von Stäfa nicht vor einem schulischen Workshop über – unter anderem – fliessende Geschlechtsidentitäten schützen.
Dann habe ich mir überlegt, ob ich bezüglich der OECD-Vorlage fluid bin, wenn ich zwar für die Minimalsteuer, aber gegen die in der Vorlage definierte Gewinnverteilung bin. Somit wären jedoch auch viele bürgerliche und nationalsensible Menschen fluid, da sie zwar für den Klimaschutz, jedoch gegen die in der kommenden Gesetzesvorlage definierten Massnahmen sind.
Dialogisch loten wir gerne aus, welch unterschiedliche Bedeutungen wir den Begriffen zuordnen.
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April 2023
Sprichst du mentalesisch?
Es muss ein schönes Erlebnis gewesen sein, als Kind neue Wörter zu erfassen und sich damit die Welt zu erschliessen. Stosse ich heute auf neue Worte, kann mich das richtiggehend beglücken. Am ausgeprägtesten ist das Glücksgefühl, wenn das neue Wort etwas auf den Punkt bringt, das mir bisher mehr oder weniger unbewusst war. Neulich ist mir das mit dem Wort «mentalesisch» passiert, was so viel bedeuten soll wie die «Sprache des Geistes».
Das Konzept einer «Sprache des Geistes» scheint in der Wissenschaft umstritten zu sein. Bei mir ist es auf Resonanz gestossen, weil ich mich regelmässig in einer Art «vorsprachlichem» Denken wahrnehme. Diese selbstgesteuerten, elektro-chemischen Prozesse laufen ohne Wort- und Satzstruktur ab. Will ich sie mündlich oder schriftlich vermitteln, steht mir meine Alltagssprache somit nicht zur Verfügung.
Das Wort «mentalesich» finde ich einerseits wohl darum sympathisch, weil es mir bestätigt, dass sich auch andere Menschen mit dem Phänomen des «sprachlosen Denkens» beschäftigen. Anderseits bietet es die Metapher des Übersetzens an – von der Geistes- in die Alltagssprache.
Den Dialog erlebe ich auch als Möglichkeit, dieses Übersetzen zu praktizieren.
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März 2023
Kann eine gesunde Gesellschaft künftig pazifistisch wirken?
In meiner Wahrnehmung häufen sich Berichte über Phänomene, die wie Zerfallsindikatoren bezüglich unseres westlich-liberalen Gesellschaftssystems wirken: sinkende durchschnittliche Lebenserwartung in den USA, steigender Anteil prekariatsbetroffener Menschen als Folge zunehmender Einkommens- und Vermögensungleichheit, stetig sinkende Budgets für Bildung und soziale Wohlfahrt, kollabierendes Gesundheitswesen, dysfunktionaler Service Public und marode Infrastrukturen, markant steigende Zahlen von Menschen mit psychischen Erschöpfungs- und Überforderungssymptomen etc.
Es gibt die These, dass eine körperliche Erkrankung das äusserliche Symptom eines inneren Ungleichgewichts sei. Ich bin versucht, diese These auf unser Gesellschaftssystem anzuwenden. Demnach entspräche der Angriff des sogenannt autoritären Systems Russland auf unser sogenannt «freiheitliches» System einem Krankheitsbefall. Die grösste Erfolgschance des Angriffs bestünde, wenn das Innere des angegriffenen Systems immungeschwächt oder eben in einem labilen Ungleichgewicht ist. So kann ich mir die Frage stellen, ob das «autoritäre» System eventuell vor allem deshalb angegriffen hat, weil es das «freiheitliche» System auf Grund oben aufgezählten Zerfallssymptome als sehr anfällig taxiert?
Der westliche Pazifismus steckt im Dilemma. Erfordert Frieden mit Waffen einen höheren Blutzoll als Frieden ohne Waffen? Gemäss der oben erwähnten These (innere Stabilität als Prophylaxe vor Angriffen) kann dieses Dilemma künftig vermieden werden. Es bedingt, dass die westliche Wirtschaft einen ökonomischen Vorteil darin erkennt, in stabile Gesellschaften zu investieren. Denn die Kosten der damit verbundenen Zusagen zu höheren Steuern würden durch die eingesparten Kriegsfolgekosten wohl mehrfach ausgeglichen.
Das aktuelle Pazifismusdilemma ist damit natürlich noch nicht gelöst.
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Februar 2023
Ist Schweigen Gold?
Es gibt Menschen, die können z.B. aus dem Kino kommen und aus dem Stegreif eine druckreife Analyse des Gesehenen formulieren. Wie beneidenswert! Bei mir sind die Eindrücke meistens noch so ambivalent und unstrukturiert, dass ich befürchten muss, mich bei meinen Begleitpersonen als Banausen zu offenbaren, wenn ich eine spontane Bewertung abgeben würde. Noch perfider ist es, wenn ich ein bestimmtes Verhalten begründen muss. Da ich mir gegenüber keiner Rechenschaft schuldig bin, passieren die meisten der vielen Alltagsentscheide «aus dem Bauch» und somit ohne rationale Herleitung. Obwohl Ludwig Wittgenstein seinen Satz «Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen» auf die Philosophie bezog, bin ich in solchen Situationen jeweils versucht, seinen Rat auch auf meine alltäglichen Ausdrucksblockaden zu beziehen und zu schweigen – in der Hoffnung auf schnelles Lichten des Nebels. Alternativ kann ich mich an eine Erfahrung halten, die Heinrich von Kleist – wohl nach einigem Herumeiern – schön auf den Punkt gebracht hat: «Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden». Denn meistens habe ich das Gefühl, dass ich schon etwas zu sagen hätte, aber das Wissen liegt noch nicht explizit auf der Zunge, sondern erst implizit in ebendiesem «Bauch».
Der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri scheint dieses Gefühl zu kennen, schreibt er doch, dass beispielsweise Wünsche nicht schon dadurch transparent sind, dass wir sie haben. Oft müssen wir etwas tun, um ihren Gehalt erkennen und artikulieren zu können. Verallgemeinernd fasst er zusammen, dass unser Erleben umso differenzierter wird, je differenzierter die Erlebens-Sprache wird.
Im dialogischen Gespräch kultiviere ich genau die Verfestigung des Erlebens durch Differenzierung der Sprache. Der Prozess wird auch als «Closed Talking» bezeichnet, analog zum in der Literaturwissenschaft geläufigen «Closed Reading» (nahes Lesen; Lesen nah am Text, im Sinne von sorgfältigem Lesen).
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Januar 2023
Wird es uns besser gehen?
Neulich las ich ein Interview mit dem Soziologen Andreas Reckwitz über Veränderungen gesellschaftlicher Fortschrittsvorstellungen (Tagi vom 07.01.2023), und nachträglich das Interview mit dem Anthropologen Daniel Fessler über Bedingungen von Kooperation (MAGAZIN vom 17.12.2022). Spontan hatte ich das Gefühl, dass sich die Thesen der beiden Wissenschaftler kombinieren lassen.
Reckwitz erkennt ein Fortschritts-Narrativ, welches westliche Gesellschaften seit dem zweiten Weltkrieg auf Grund technischer Entwicklungen immer stärker verinnerlicht hatten: unseren Kindern wird es besser gehen. Seit einigen Jahren wird dieses Narrativ jedoch von einem wachsenden Teil der Bevölkerung als «gebrochenes Versprechen» erlebt. Ursachen für diesen Prozess seien Ausschlusserfahrungen durch Deindustrialisierung und Globalisierung, Statusschwund, drohender Klimawandel, Desorientierung durch Emanzipations- und Identitätsdynamik, geopolitische Machtverschiebungen etc. Weil dieses gebrochene Versprechen als Verrat, Destabilisierung und Überforderung empfunden wird, werden die Leute empfänglich für populistische Komplexitätsreduktion und autoritäre Leader. Ironie der Geschichte – ähnliche Muster sollen Ursache für den zweiten Weltkrieg gewesen sein.
Für Fessler ist die Freundlichkeit ein Element der Kooperation. Er unterscheidet die eher kalkulierende Freundlichkeit (z.B. Netzwerken) von der ziel- und absichtslosen Freundlichkeit. Die absichtslose Freundlichkeit interpretiert er als Investition. Denn wenn freundliches Verhalten mehr Energie erfordere als unfreundliches, beschert meine Freundlichkeit dem Gegenüber zwar einen Profit, ohne dass ich mit einem direkten Return rechnen kann. Entsprechend bezeichnet Fessler die Funktionsweise der Freundlichkeit als indirekte Rückkopplung: meine Freundlichkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich mehr Menschen freundlich verhalten und sich meine «Investition» doch noch rentiert. Freundlichkeit wirke – wie das Vertrauen – als soziales «Schmiermittel» – sie macht Beziehungen sowie Gesellschaften effizienter und stabiler.
Gemäss Selbstbeobachtung steigt meine Investitionsfreude, je optimistischer ich die Zukunft einschätze. Kann es sein, dass meine absichtslose Freundlichkeit die Investitionsfreude anderer erhöht, die Gesellschaft dadurch solidarischer wird und letztlich zur Folge hat, dass es unseren Kindern künftig wieder besser gehen wird?
Beste Wünsche fürs neue Jahr
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November 2022 – im Rahmen der «Langen Nacht der Philosophie»
Frieden oder Gerechtigkeit?
Ist die Forderung nach Frieden UND Gerechtigkeit realistisch? Rechtfertigen die Konfliktparteien ihre Aggression nicht meisten damit, bloss auf Mikrogewalt oder Provokation der anderen Seite zu reagieren? Ist Friede mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit somit möglich? Der Bohmsche Dialog weist einen Weg aus dem Dilemma.
Der Physiker und Philosoph David Bohm (1917 – 92) erforschte mit dem Religionsphilosophen Martin Buber die Bedingungen, damit gegensätzliche Positionen sich gegenseitig befruchten, statt zu eskalieren. Neigen wir bei Positionsgegensätzen zur Bewertung der Positionen, fokussiert der Bohmsche Dialog auf die Beziehung zwischen den Positionen. Dieser Ansatz ist für die meisten Menschen ungewohnt, weil er von konditionierten Gesprächsmustern abweicht. Und wie beim Optimieren von ungewohnten Bewegungsabläufen z.B. im Sport oder beim Musizieren, erfordern auch ungewohnte kognitive Abläufe zunächst Sensibilisierung und Praxis. Der Bohmsche Dialog basiert auf einfachen Elementen der Denk- und Sprachmechanik. Diese ermöglichen eine öffnende Haltung bezüglich der «Beziehung zwischen den Positionen».
Wir vermitteln die dialogischen Kernelemente und praktizieren sie bei der Frage nach den Parallelen von Konflikten in kleinen und grossen Systemen.
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Oktober 2022
Was denkst Du?
Wird mir diese Frage gestellt, habe ich häufig keine Antwort. Nicht weil ich nicht denke – ich scheine ja einen gedankenversunkenen Eindruck zu machen, sondern weil ich offenbar nicht in Worten denke, sich meine Gedanken somit nicht einfach auf Abruf in Worte fassen lassen. Das wiederum scheint häufig für mein Gegenüber befremdlich zu sein. Und ich frage mich, denken andere Leute immer in Worten? Und ist es nicht beneidenswert, sich seiner Gedanken stets so bewusst zu sein, dass sie unmittelbar formuliert werden können? Tröstlich ist mir in solchen Situationen jeweils Heinrich von Kleists Gedanke von der «allmählichen Verfestigung der Gedanken beim Reden». Er hat damit ein zentrales Element des Bohmschen Dialogs vorweggenommen.
Denn, wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage
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September 2022
Grenzen des Dialogs?
Elektrische Heizkörper, Gaskocher und Taschenlampen sollen mehr oder weniger ausverkauft sein. Denn Russland sah sich gezwungen, zur Erreichung seiner Ziele Gewalt anzuwenden, wodurch die eh schon labil gewordene Selbstverständlichkeit der uneingeschränkten Energieversorgung abrupt zu Ende war. Die Preise steigen und die Leute bereiten sich auf den Ernstfall vor. Sollte es dem Staat z.B. auf Grund kollabierender Stromversorgung nicht mehr möglich sein, das Gewaltmonopol stabilisierend auszuüben, rechnen offenbar viele Leute damit, dass auch die sogenannte «Zivilisation» kollabiert. Und dass es also auch bei uns zu Plünderungen und Gewalt kommen wird, wie 1977 in New York beim 25-stündigen Stromausfall. Für die aktuelle Bedrohungslage empfehlen Fachleute, sich mit Gütern so weit einzudecken, dass man bis zu zwei Wochen autark leben könne.
Doch welche Optionen bietet der Dialog in solch verfahrenen Situationen? Zwar ist er für mich ein Präventionsinstrument, um Spannungspotentiale zu erkennen und Gewalt zu vermeiden. Dennoch bezweifle ich, dass aufgrund kaum erkennbarer Rückkopplungsschlaufen selbst bei idealen dialogischen Bedingungen alle Eventualitäten erkannt werden. Aus diesem systemischen Grund ist somit stets mit Gewaltausbrüchen zu rechnen. Und ist die Krise bzw. der Krieg trotz Präventionsdialog ausgebrochen, kann er sein Potential als Friedens- und Bewältigungsdialog entfalten. Befähigen kann bedeuten, eigene Befürchtungen und Ängste durch den Austausch mit anderen zu relativieren, und dadurch z.B. nicht in gesellschaftsschädigende Panikkäufe zu verfallen.
Gute Bewältigung wünscht
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August 2022
Meine Kultur. Meine Kultur?
Neulich beim Mittagessen im Geschäft mit ein paar Leuten aus diversen Teams erzählte ich eine Geschichte, die anerkennende Erheiterung auslöste. Eine Kollegin aus meinem Team, die bei jenem Mittagessen dabei war, erzählte diese Geschichte einige Tage später an einem Anlass unseres Teams – und erntete dafür anerkennende Erheiterung. Einerseits erfreute mich, dass meine Kollegin die Geschichte offenbar nachhaltig verinnerlicht hatte. Anderseits beobachtete ich bei mir das unangenehme Gefühl, dass sich diese Kollegin mit meinen Federn schmückt. Es war, als hätte sie sich etwas von mir angeeignet. Ich habe mich danach gefragt, wie unbedacht ich mir bisher «kulturelle Elemente» von anderen angeeignet hatte, und ob ich diesbezüglich künftig vorsichtiger sein werde?
Mir scheint, beim Dialog geht es auch darum, wie ich mir fremde Elemente aneigne.
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Juni 2022 – im Rahmen des Festivals «STILLES ZÜRICH»
Still ?
Stille sei mehr als Abwesenheit von Lärm, schreiben die Veranstalter des 2017 Initiierten Festivals STILLES ZÜRICH. Ich mag den Begriff «still», weil er bei mir ambivalente Assoziationen auslöst. Als Abwesenheit von Lärm bewerte ich Stille positiv, werde ich jedoch zum «Stillsein» gemahnt, kann sie eine bedrückende Komponente entfalten.
Dass sich DIALOG-KONSTRUKTIV seit 2019 am Festival beteiligt, gründet am offensichtlichsten auf den Momenten der Stille, die beim dialogischen Gruppengespräch durch die Entschleunigungsmethoden des Settings entstehen. Die Ambivalenz von «Stille» kann jedoch auch als Beispiel für ein dialogisches Kernanliegen dienen – in welchem Kontext hat das Wort welche Bedeutung für mich, welche Bedeutung hat das Wort für dich.
David Bohm verwies auf die altgriechische Bedeutung «dia» (durch) und «logos» (Wort, Sinn): durch das Bewusstwerden und Vermitteln der eigenen Wortdeutung kann ich anderen Menschen Einblick in meine Weltsicht geben. Und durch die Weltsicht anderer kann ich meine Weltsicht relativieren, was neue Denk- und Handlungsoptionen ermöglicht, besonders in Konfliktsituationen.
Damit wird deutlich, dass die stillen Momente während des Dialogs häufig einen heftigen «inneren» Lärm auslösen können. Wir hören uns
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Mai 2022
Wie geht es dir?
Neulich habe ich gelesen, dass Zoom seine Videokonferenz-App mit einem Gefühlsdetektor ausstatten will. Dank sogenannt «künstlicher Intelligenz» soll das Programm bei den Konferenzteilnehmenden erkennen, in welcher Gemütsverfassung sie sich gerade befinden. Zum Beispiel könnte beim Host eines Verkaufsgesprächs via Zoom der Hinweis erscheinen, dass die potenzielle Käuferin, der potenzielle Käufer, im Moment Richtung Frustration driftet. Die Verkaufsperson könnte das Gespräch somit auf diese Information ausrichten, sollte sie die Frustration selbst noch nicht erkannt haben.
Mich faszinieren die Spannungsfelder, die sich unter Annahme von Realisierbarkeit aus dieser Technologie ergeben. Wie verändert sich mein Verhalten, wenn ich weiss, dass mein Gegenüber sehr wahrscheinlich diesen Befindlichkeits-Scanner verwendet? Und würde ich als Host dem Algorithmus vertrauen, falls seine Einschätzung des Gegenübers von meiner Empfindung abweicht? Was würde es mir über meine Einschätzungskompetenz sagen, wenn meine Einschätzung häufig von derjenigen des Algorithmus abweicht? Müssten wir uns damit abfinden, dass «künstliche Intelligenz» uns bei der Einschätzung des Gegenübers genauso überlegen ist wie der Computer beim Schach? Würde ich mir diesen Kompetenz-Booster dann nicht permanent wünschen, anstatt nur beim Zoom-Meeting? Zum Beispiel mit einer Brille, die das Gegenüber scannt und mir den Befund auf die Gläser projiziert? Wüsste ich denn unter diesen Umständen noch, wie es mir geht? Könnte mir die Zoom-App nicht auch gleich eine Art «Selbsteinschätzung» mitteilen? Würde meine Selbsterkennungs-App auf das identische Resultat kommen wie die Fremderkennungs-App meines Gegenübers? Hätten wir damit endlich das Problem mit den unterschiedlichen – weil subjektiven – Einschätzungen gelöst und eine Objektivität erreicht?
Möchte ich unter diesen Umständen so explizit wissen, wie es mir und meinem Gegenüber geht?
Nach meiner Wahrnehmung ist es für Leute mit Anspruch auf explizites Verstehen schwieriger, sich am Dialog zu erfreuen. Die Entdeckung der impliziten Aspekte wiederum schildern viele als sehr bereichernde Erkenntnis. Vorläufig noch ohne Gefühlsscanner, lade ich zum Zoom-Meeting
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April 2022
Ist jemand gegen den Frieden?
Das frage ich mich jeweils, wenn für Frieden demonstriert wird. Denn bekanntlich sprechen sich selbst kriegsführende Parteien für den Frieden aus. Dennoch scheint Frieden nicht das oberste Gebot, sondern an Bedingungen geknüpft zu sein. Also frage ich mich auch, was wir Demonstrierenden konkret für den Frieden machen. Bin ich z.B. bedingungslos friedlich? Oder wie viel empfundene Ungerechtigkeit nehme ich in Kauf, bis Aggression in mir aufsteigt? Wie viel Unsicherheit ertrage ich, bis mein Verhalten befremdliche Züge annimmt? Wie gross ist meine ideologische Mobilität, wenn mein Gegenüber mir Unbehagen signalisiert? Wie oft futiere ich mich um das Befinden meines Gegenübers, wenn ich in der mächtigeren Position bin?
Ist es allenfalls unfriedlich, sich solche Fragen zu stellen, anstatt einfach nur den Aggressor zu verurteilen? Gibt es keinen Zusammenhang zwischen Mikro- und Makro-Aggression?
Der Dialog interessiert sich für deinen Beitrag am Weltgeschehen.
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März 2022
Ist die Wahrheit das erste Opfer?
In den letzten Wochen wurde wieder häufig verkündet, die Wahrheit sei das erste Opfer des Krieges. Das ist sehr ärgerlich, weil damit vermittelt wird, dass es
· nur eine Wahrheit gibt,
· «wir» der Wahrheit verpflichtet sind
· und «die anderen» somit nur Propaganda betreiben.
Ist es nicht naiv zu glauben, dass «wir» keine Propaganda betreiben und stets human und mit offenen Karten spielen? Die versteckte Agenda lässt vermuten, dass die geopolitischen bzw. kapitalistischen Interessen hinter der schönen Oberfläche knallhart und erbarmungslos sind. Dass die Verlierer dieses globalen Pokers sich irgendwann mit militärischer Erbarmungslosigkeit zu retten versuchen, erscheint mir sowohl nachvollziehbar wie unverzeihlich.
Kann es mein Beitrag zur Verhinderung künftiger Kriege sein, dass ich «unserem» Geschwurbel über DIE Wahrheit kritischer begegne? Und dass ich in Erwägung ziehe, dass meine materiellen Interessen den Anfang einer unheilvollen Verkettung bilden, weil diese Interessen im Konflikt zu Interessen anderer Regionen stehen?
Darum pflegt der Dialog das Interesse an anderen Interessen.
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Februar 2022
Was meinst du mit «Freiheit»?
1987 brachte der Sänger Marius Müller-Westernhagen sein Lied «Freiheit» heraus. Der Text war offen formuliert und schien niemandem weh zu tun, alle konnten mitschunkeln. Zwei Jahre später wurde das Lied zur Hymne gegen die DDR-Staatsgewalt und für die deutschen Wiedervereinigung. Gegen diese Vereinnahmung hat sich Müller -Westernhagen nie gewehrt, im Gegenteil – 2001 liess er sich vom deutschen Bundespräsidenten mit dem Verdienstkreuz ehren.
Coronabedingt wurde das Lied wieder ausgegraben und hymnisch gesungen, der Titel auf Fahnen und Banner gepinselt. Denn wieder fühlten sich besorgte Bürger vom Staat gegängelt und ihrer Rechte beraubt – z.B. dem Recht auf körperliche Unversehrtheit. Doch so frei wollte Müller-Westernhagen seine Freiheit dann doch nicht verstanden wissen – diesmal wehrte er sich gegen die Vereinnahmung. Leider verpasste er damit die Chance, seinem früher in romantischer Unbefangenheit verwendeten Freiheitsbegriff jetzt die dialogische Tiefe zu gebe: wer bestimmt, was ein Wort bedeutet?
Willkommen zum dia logos – immer wieder loten wir aus, was wir durch unsere Worte zum Ausdruck bringen.
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Januar 2022
«Ignorant!» – «selber Ignorant!»
Mit dem Begriff «KONSTRUKTIV» im Namen meines Dialog-Angebotes verweise ich auf den sogenannten Konstruktivismus. Die Hauptaussage des Konstruktivismus lautet für mich, dass jedes Individuum – auf Grund subjektiver Erfahrungen und Bewertungen – sich ein eigenes Weltbild bzw. eine eigene Wirklichkeit konstruiert. Doch obwohl ich weiss, dass diese persönlichen Konstruktionen die gleiche Legitimität haben wie meine, ertappe ich mich immer wieder bei der Empfindung, das Geschwurbel meines Gegenübers beruhe wohl auf mangelnder oder fehlerhafter Information. Und schon habe ich im Kleinen die Spaltung, welche sich aktuell durch die Gesellschaft zu ziehen scheint.
Oskar Wilde hat für diesen Prozess eine schöne Metapher gefunden:
Die Menschen können in zwei Gruppen unterteilt werden – in die Gerechten und die Ungerechten. Die Zuteilung erfolgt durch die Gerechten.
DIALOG KONSTRIKTIV ist eine Möglichkeit, das Erkennen dieses Prozesses sowie seine Überwindung zu üben.
Oktober 2021
November 2021
Hate Speech – das Ende der Diskussion? (Ausschreibung für die „Lange Nacht der Philosophie)
Die Diskussion ist wohl die häufigste Form der mündlichen Auseinandersetzung. Doch sie erlebt eine akute Krise, weil z.B. mit «Impfgegnern» oder «Verschwörungstheoretikern» nicht mehr diskutiert werden könne. Zwar wollen wir austauschen, scheinen aber nicht zu können – nun entdecken immer mehr Leute den Dialog als Ausweg.
Der Physiker und Philosoph David Bohm (1917 – 1992) analysierte das Wesen des Diskutierens, weil sie ihn häufig enttäuschte. In der Herkunft des Begriffs fand er dafür eine Erklärung: dis-cutere (lat.) für zer-schneiden – eine Sache in ihre Elemente aufteilen, um ihre Komplexität zunächst zu reduzieren, bevor die Teile wieder zusammengefügt werden. Heute beobachten wir bei Diskussionen oft, dass einzelne Elemente einer Sache (besonders Interessens- und Werteaspekte) relativ unbewusst nicht mehr als Teile, sondern als Ganzes verstanden werden. Taucht ein oppositionelles Element auf, wird es somit nicht mehr als ebenbürtiger Teil des Ganzen empfunden, sondern als Dequalifizierung der eigenen Position oder gar der eigenen Identität, was leicht zu aggressivem Verteidigungsverhalten führt. David Bohm plädierte dafür, die Fraktionierung zu überwinden und zu einem holistischeren Verständnis zu gelangen. Er empfahl dafür die Form des Dialogs: dia-logos (griech.) – durch das Wort.
Wir erproben die dialogische Methode.
Oktober 2021
Oktober 2021
Sind Impfgegner dumm und unsympathisch?
Vor kurzem wollte ich auswärts an einem kulturellen Anlass teilnehmen. Erst an der Abendkasse bemerkte ich, dass meine Zertifikats-App nicht mehr funktionierte, ich somit wieder umkehren musste. Mein nächster Zug fuhr erst in einer guten halben Stunde, und da es bereits recht kalt war, wollte ich im Bahnhofsbuffet einen Tee trinken – ja denkste, ohne Zertifikat kein Restaurantzutritt!! Wann hatte ich mich letztmals derart ausgeschlossen gefühlt?
Ebenfalls habe ich vor kurzem eine Studie darüber gelesen, ob kognitive Einschränkung sich auf die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien auswirke. Ergebnis: sogenannte Verschwörungstheoretiker können sehr intelligent sein, weil sie dank ihrer kognitiven Kompetenz differenzierte Argumente für ihre Weltsicht finden.
Und vor kurzem ist zudem das neue Buch von Bernhard Schlink erschienen (Die Enkelin). Darin versucht ein sich liberal-humanistisch fühlender Grossvater, seine ins national-völkische Milieu gedriftete Enkelin „zurückzulotsen“. Konsterniert muss er feststellen, dass seine Enkelin trotz ihrer befremdenden Weltsicht auf ihn sehr sympathisch und liebenswürdig wirkt.
Obwohl Leute ohne Covid-Zertifikat also nicht zwingend dumm und/oder unsympathisch sind, muss ich sie an meinen Dialog-Abenden in der Kälte stehen lassen, da am Veranstaltungsort die 3G-Regel gilt.
Je m’excuse.
Oktober 2021
September 2021
Fördert die Pandemie unsere Dialogsensibilität?
Bewirkt meine Sensibilität für dialogische Aspekte das Phänomen, welches Eltern bei der Erwartung ihres ersten Kindes oft beschreiben – plötzlich sehen sie überall Kinderwagen. Oder häufen sich in den Medien tatsächlich die mehr oder weniger moralisierenden Apelle, sogenannte «Impfgegner» nicht einfach als unvernünftige Egoisten zu verurteilen, sondern in einen Dialog mit ihnen zu treten und sich «wertneutral» für ihre Motive zu interessieren. In meiner Wahrnehmung nehmen Beiträge zu, die in dieser «gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Situation» erkennen, dass Zwangsmassnahmen und als autoritärer empfundener Druck bei einem relevanten Teil der Bevölkerung genau das Gegenteil des ursprünglichen Imperativs (IMPFE DICH) bewirken.
Sollte meine Beobachtung zutreffen – resultiert daraus dann ein nachhaltiges Verständnis für das solidarisierende Potential des Dialogs, oder wird er vom Mainstream wieder in den Schatten der Diskussion entsorgt, wenn er frustriert erkannt hat, dass auf dialogischem Weg kaum Absolution erhältlich ist?
3G – geweckt, gefordert, gelassen
August 2021
Denken Sie nicht an Covid
Wie ist es mir möglich, nicht an Covid zu denken, wenn wir nach pandemiebedingtem Unterbruch das dialogische Zusammenkommen wieder aufnehmen? Woran denke ich stattdessen, wenn ich nicht an ein bestimmtes Thema denken will? Frage ich mich zum Beispiel, wie relevant denn andere Themen sind, wenn sich das eine Thema trotz Vermeidungsbedürfnis immer wieder vordrängt? Oder was denn die guten Gründe sein könnten, dass ich ein bestimmtes Thema ignorieren will?
Doch selbst wenn ich es zulasse, das ungeliebte Thema zu bedenken, resultiert daraus dann etwas Sagbares, gar etwas Eigenständiges? Wurde nicht schon alles, was es zu diesem Thema zu sagen gibt, x-fach hin und her rezensiert? Oder beschränkt sich die Bedeutung ausgesprochener Gedanken darauf, anderen einfach die eigene Position zu vermitteln – der Akt des Mitteilens somit wichtiger wäre als der Inhalt des Mitgeteilten?
Solche Ungewissheiten zu formulieren ist ein Benefit des dialogischen Gruppengesprächs. Manchmal lichtet sich mein Nebel bereits beim Formulieren, manchmal verführt mich die Reaktion einer anderen Person zur Positionsveränderung.
happy to continue
Oktober 2020
Entsolidarisierung – Erklären der Kühlergrill das Trump-Phänomen?
Der Design-Professor und Publizist Paolo Tumminelli befasst sich seit Jahren mit der Expressivität von Autos. Die Gestaltung der Front sei in den letzten Jahren auf immer aggressivere Wirkung angelegt worden. Und wenn selbst der kleine Toyota Aygo (Bild rechts) wie ein wütender Wicht zu schreien scheint „verpiss dich, ich komme zuerst“, dann zeigt sich eine Gemütslage bürgerlicher Konsumenten, die der amtierende amerikanische Präsident instinktsicher zu seinem Wahlkampf-Claim verdichtet hat.
Vor gut 40 Jahren konnte ich mich erstmals an Wahlen beteiligen. In meiner Erinnerung empfahl sich die Schweiz stolz als Konkordanzdemokratie (etymologisch: lat. con – zusammen; lat. cor – Herz), entsprechend profilierten sich kandidierende Politiker gerne als „konkordant“. Natürlich gab es auch damals schon narzisstische Gegenpositionen. Doch inzwischen scheint mir, das Verhältnis von „Brückenbauern“ und „Ego-Positionisten“ habe sich deutlich gekehrt – wer sich heute um politischen Ausgleich bemüht, muss damit rechnen, von eigenen Parteianhängern als prinzipienloses Weichei verhöhnt zu werden. Diese kompromisslose Rechthaberei um jeden Preis befremdet mich und macht mir Sorgen. In dialogischer Art interessieren mich die guten Gründe für diese Drift mehr als die Beurteilung der Driftenden.
Entsolidarisierung ist wie jeder gesellschaftliche Wertewandel ein komplexer Prozess. Jürgen Habermas misst der Globalisierung eine grosse Bedeutung zu. Sie „legitimiert“ sich primär dadurch, dass das konsumierende Subjekt von günstigeren Produkten profitiert („ich bin doch nicht blöd“: Werbeslogan Media Markt). Blöd ist allerdings, dass ich sekundär durch den Konsum von Billigimportierten die lokale Produktion dezimiere – und damit mehr oder weniger direkt mein eigenes Budget – wenn nicht beim Salär, dann spätestens bei den Staatseinkünften (Steuern) und somit bei der Finanzierung des Service Public. Das heisst für mich, das weltweite ökonomische System hat sich so entwickelt, dass ich den Kürzeren ziehe, egal wie ich mich verhalte – die Profite landen stets bei ein paar privaten Investoren. Gut nachvollziehbar ist für mich, dass Menschen unter diesen Bedingungen nicht die Deppen sein wollen und lieber den zwar kurzfristigen, aber selbstwirksamen ökonomischen Vorteil wählen statt der langfristigen diffusen Solidarität. Und wenn mich das System schon zum Egoismus „zwingt“, kann ich aus der Not ja gleich eine Tugend machen und den aggressivsten Egoisten zu meinem Häuptling küren.
Um nur zwei nahe Beispiele zu nennen – sei es der Brexit oder das Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU – auf allen Seiten scheint die Bereitschaft für Kompromisse zu schwinden und die Bereitschaft für grosse sozioökonomische Verluste zu steigen. Seit 1972 warnt der Club of Rome mit seiner grossen Studie zur Endlichkeit von Ressourcen (Die Grenzen des Wachstums) vor massiven Kriegen um die letzten Gallonen Erdöl. In Anbetracht der zunehmenden allgemeinen Aggressivität – von der Autokarosse bis zu den sich militarisierenden Bürgerwehren in Amerika – scheint der Kampf ums Überleben aus Ohnmacht gegenüber den aktuellen Gewinnern des Strukturwandels zunächst unter Nachbarn stattzufinden.
Aggression und Entsolidarisierung sind für mich somit nicht Ursache, sondern Symptome. Und auch wenn mir die Symptome unsympathisch sind, deren Bashing ist erfahrungsgemäss kontraproduktiv. Allenfalls hilft der Dialog 🙂
September 2020
Was wollen Sie?
Manchmal passiert es in Filmen (oder auch in der Realität), dass eine Person z.B. in einer Paarsituation relativ verzweifelt ruft: „… aber das wollte ich doch gar nicht!“. Augenblicklich bin ich auf höchster Aufmerksamkeitsstufe, lädt diese affektive Äusserung doch geradezu ein zur finalen Killerfrage: „… ja was willst Du denn?“
Wie oft bin ich schon in diese Falle getappt und wusste dann (besonders in emotionalen Situationen) keine Antwort, weil das Naheliegende (z.B. „… ich möchte Anerkennung“) noch nicht legitimiert war. Erschwerend hat meine Sozialisation mir Beschämung verordnet, wenn ich nicht einmal wusste, was ich will. Und eine Zeit, die sich alle Mühe gibt, immer noch zielorientierter zu werden („was wollen Sie?“), ist natürlich alles andere als Balsam für die zermürbte Seele.
Doch nun habe ich vor kurzem gelesen (Krogerus & Tschäppeler, Das Magazin Nr. 37/2020), dass die Software-Fachleute vom Silicon Valley dieses Nichtwissen so häufig beobachten, dass sie darin sogar eine Gesetzmässigkeit erkennen: Humphrey’s Law. Für die Leute vom Silicon Valley liege die Relevanz dieses Gesetzes darin, dass sie für die Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen die Kunden gar nicht erst nach ihren Bedürfnissen zu fragen brauchen, weil sowieso keine brauchbaren Antworten kommen. Stattdessen wursteln sie einfach etwas zusammen und bringen eine „Version 1.0“ auf den Markt. Offenbar funktioniert jetzt die Kundenbefragung: „wollen Sie dieses Gadget?“. Doch wehe Sie wagen zu sagen „… das will ich nicht!“ – dann müssen Sie mit einer sehr hilflosen Rückfrage rechnen.
Vor einigen Jahren gab es auf diese Frage eine relativ simple Antwort: Sex, Drugs und Rock ‘n Roll. Inzwischen ist es ein bisschen komplizierter geworden: Facts, Vakzine und Kühlaggregate.
August 2020
Kann ein Dialog die MA-Beurteilung ersetzen?
Mit „Hierarchie auf Augenhöhe“ bringt die Unternehmensberaterin Ursula Michel ihre Ideen zur Mitarbeitenden-Beurteilung elegant auf den Punkt. Nach über 30-jähriger Tätigkeit kommt sie zum Schluss, dass diese Gespräche einer zeitgemässeren Form bedürfen. Im Tages-Anzeiger-Interview vom 15. August 2020 schildert Frau Michel zunächst die Entstehungsgeschichte dieser Gespräche: die Beurteilung der Mitarbeitenden bezüglich Leistung und Verhalten sei ein zentrales Element des professionellen Qualitätsmanage-ments. Für viele Vorgesetzte habe sich dieses jährliche Ritual jedoch zu einer energieraubenden Belastung entwickelt, weil kritische Beurteilung einen hohen Rechtfertigungsaufwand erfordere und dennoch häufig demotivierende Wirkung auf das Personal habe. Wollen Vorgesetzte dieses Mienenfeld durch ausgemittete Beurteilungen entschärften, wird die Strategie von den Mitarbeitenden durchschaut und als Führungsschwäche interpretiert.
Bei der Dilemmaanalyse realisierte Frau Michel, dass die Ursache der Dysfunktion von Beurteilungsgesprächen im veränderten Autoritätsanspruch an Führungspersonen liegt – Mitarbeitende verstehen sich immer selbstverständlicher nicht mehr als „Unter-gebene“, sondern als Partner mit anderen Funktionen. Was legitimiert somit heute eine mit objektivem Anspruch formulierte Kritik?
Ausgerechnet das Fundament des „Beurteilungsgesprächs“ in Frage zu stellen erfordere von Vorgesetzten einen grossen „Mindshift“. Kern der Optimierung liege im Anerkennen, dass die Bewertung von Leistung und Verhalten nicht absolut, sondern subjektiv sei. Das bewusste Vermitteln dieser Subjektivität durch die Führungsperson im Gespräch – verbunden mit Interesse an der subjektiven Position des Gegenübers (entdeckende statt wissende Haltung) entschleunige zunächst das Gespräch und erweitere durch die Wertneutralität das Feld der Optionen. Das erleichtere besonders in hierarchischen Situationen, eigene Positionen zu benennen – und dadurch neue Erkenntnisse zu generieren. Nicht die Vermittlung eines statischen Urteils sei das Ziel zeitgemässer MA-Gespräche, sondern ein dynamisches gegenseitiges Erkennen neuer Aspekte.
Frau Michel bezeichnet diese Methode als „Dialog“, was für mich sehr treffend ist. Denn sie nennt einige für mich zentrale Aspekte des Dialogs:
· bewusste Subjektivität,
· Entschleunigung als Basis für aktives Zuhören,
· Interesse für neue Positionen und
· Respekt für andere Werte.
Der Arbeit von Frau Michel ist zu verdanken, einen erweiterten Kreis von Menschen zur Reflexion über vermeintliche Objektivität anzuregen – und natürlich explizit den Dialog als Methode und Haltung einem breiteren Publikum bekannt zu machen, um den Verlust der Objektivität mit neuer Qualität zu kompensieren.
Juni 2020
Wie gewiss sind mir meine Gewissheiten?
Als Lockdown-Projekt erhielt ich von meinem Arbeitgeber den ehrenvollen Auftrag, einen Workshop für Stellensuchende zu entwerfen – Thema: „Konstruktivismus“. Auslöser war zunächst die Erfahrung vieler Coaches, dass sie den Konstruktivismus zwar als Instrument für den professionellen Prozess kennengelernt haben, von der entspannenden Wirkung auf alle Interaktionen dann jedoch so angetan waren, dass sie auch im privaten Alltag nicht mehr davon liessen. Und wie häufig dachten wir Jobcoaches bei der Aufbereitung einer „abenteuerlichen“ Biografie für das Bewerbungsdossier oder das Vorstellungsgespräch, dass die Kenntnis des konstruktivistischen Modells für den Klienten oder die Klientin sehr, sehr hilfreich wäre – BINGO!
Im privaten Umfeld hatte ich natürlich schon mehrmals versucht, meine Faszination für dieses Gedankenmodell zu vermitteln. Den mittelmässigen Erfolg führte ich darauf zurück, dass ich kaum den Fachjargon überwinden konnte, mit dem mir der Konstruktivismus in meiner Ausbildung beigebracht wurde. Die Herausforderung bezüglich Workshop lag für mich somit darin, ein alltäglicheres Narrativ und Wording zu finden.
Gefallen fand ich am Wort „Gewissheit“. Denn trotz konstruktivistischer Imprägnierung stellte ich bei mir augenblicklich einen Klammerreflex fest – meine Gewissheiten sind heilig, daran wird nicht gerüttelt!!! Doch genau darum geht es. Meine Gewissheiten bilden und verfestigen sich relativ unbewusst und werden entsprechend auch kaum reflektiert. Sie sind einfach da und bedienen mit nonchalanter Selbstverständlichkeit den Joystick. Da drängt sich doch die Frage auf, wie flexibel Gewissheiten reagieren, wenn eine Opposition oder ein Widerspruch am Horizont auftaucht?
Am 13.06.2020 hat sich Judith Wittwer mit einer Hymne auf den Journalismus als Tagi-Chefredaktorin von den Leserinnen und Lesern verabschiedet. Dabei nennt sie diverse Erkenntnisse, die aufgrund der Corona-Erfahrung die Notwendigkeit souveräner Medien illustrieren – z.B. „Gewissheit war gestern – aufgeklärte Gesellschaften halten das aus.“
Mit Namasteh-Gruss
März 2020
Auf Grund der Corona-Pandemie sage ich den März-Dialog ab. Skepsis gegenüber behördlichen Anweisungen empfinde ich als legitim. Doch ich unterstütze den aktuellen Aufruf, zu Hause zu bleiben.
Bin ich mir bewusst, dass ich unbewusst bewerte?
Atemschutzmasken habe ich bisher ausschliesslich bei staubbildenden Arbeiten getragen, nie jedoch, wenn ich unterwegs war. Ab und zu sind mir auf der Strasse oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln Menschen begegnet, die solche Masken trugen. In den meisten Fällen wirkten diese Menschen auf Grund ihrer Gesichtszüge auf mich asiatisch. Und mehr oder weniger bewusst habe ich mich gefragt, wovor diese Menschen sich mit der Maske denn schützen wollen.
Vor kurzem habe ich in einem Artikel gelesen, dass es in vielen asiatischen Kulturen dazu gehöre, z.B. bei Erkältung einen Mundschutz zu tragen. Es geht dabei somit nicht um den eigenen Schutz, sondern um die eigene „Gefährlichkeit“ – ich kann für andere eine Gefährdung sein. In diesem Augenblick musste ich mir eingestehen, dass ich – wieder mehr oder weniger bewusst – den Menschen mit Mundschutz stets Ängstlichkeit unterstellte. Doch wenn jemand mich als ängstlich bezeichnet, empfinde ich das eher als übergriffige Unterstellung denn als Kompliment. Umgekehrt ist es natürlich übergriffig, wenn ich andern Menschen Ängstlichkeit unterstelle.
Mir scheint, dass David Bohm genau solche Mechanismen meinte, als er „unbewusste Annahmen“ als zentrale Quelle von Konflikten und unergiebigen Diskussionen benannte. Ein bestimmtes Verhalten kann wie obiges Beispiel kulturell so tief in mir verankert sein, dass ich seine „Nicht-Selbstverständlichkeit“ nicht nur kaum erkenne, sondern sogar als Selbstverständlichkeit verteidige.
Die dialogische Regel, andere aussprechen zu lassen und mir beim Zuhören der Abweichung zu meinem Selbstverständnis bewusst zu werden, kann somit mein Weltbild erweitern (ein ressourcenschonender Nebeneffekt besteht darin, dass ich physisch nicht zu verreisen brauche). Ich erleichtere meinem Gegenüber das Zuhören, wenn ich selber möglichst konsequent von „meiner Welt“ spreche, statt allgemeinplätzig von „der Welt“.
Im Idealfall können wir uns im April wieder treffen. Bis dann alles Gute.
Februar 2020
Bedingt zunehmender Individualismus auch mehr Indifferenz?
Welch schönes Gefühl, ein aufmerksames Netzwerk zu haben – ich dank allen, die mich auf die SRF-Sendung „Sternstunde Philosophie“ vom 16. Februar 2020 aufmerksam gemacht haben („Reden – nicht brüllen“, SRF-Mediathek).
Gäste in dieser Sendung sind die Autorin und Netz-Aktivistin Kübra Gümüşay sowie der Systemtheoretiker und Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Es geht um aktuelle Kommunikationsoptimierung in Zeiten des Umbruchs und der daraus resultierenden Desorientierung und Verunsicherung. Ein Umbruchsindikator mag sein, dass disruptive Strategien nicht mehr bloss Management-Eldorados sind, sondern gar demokratische Mehrheiten ermöglichen für autoritäre Regierungen und nationalistische Plebiszite.
Der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun soll als anthropogene Konstante pointiert haben, „ich bin Ideal, du bist Skandal“. Für mich zeigt er damit ein Bedürfnisdilemma – je mehr Individualität ich erreiche, desto unverständlicher werde ich für mein Gegenüber. Und natürlich auch umgekehrt – je individueller andere Menschen werden, desto unverständlicher (skandalöser) werden sie für mich. Und Skandale scheinen ein hohes Empörungspotential zu haben, wie die sozialen Medien zeigen.
Ein bisschen Skandal und Befremdung mag mich stimulieren, aber wie viel Energie habe ich, um grosse Mengen an Differenzen respektvoll zu verinnerlichen? Kübra Gümüşay verweist in der Sternstunde-Sendung explizit auf das Gesprächsmodell von David Bohm, um mehr Differenzierung zu ermöglichen. Gratis geht’s allerdings nicht; der Dialog erfordert die Bereitschaft, sich einerseits selber als lernendes und somit „fehlerhaftes“ Wesen einzubringen, und anderseits dem Gegenüber dieselbe Fehlerhaftigkeit zuzugestehen. Dann kann der euphorisierende Gedankenprozess ausgelöst werden, den wir Erkenntnis nennen. Bernhard Pörksen sagt dazu: „Dialog ist der Tanz des Denkens“.
In diesem Sinn – welcome to the party
Januar 2020
Reflexion in eigener Sache: wie optimiert sich ein selbstorganisiertes System? Fehlerkultur beim DIALOG KONSTRUKTIV
Das dialogische Gespräch nach David Bohm unterscheidet sich aus meiner Sicht vom sogenannten „Alltagsgespräch“ besonders durch formale Regeln. So soll Bohm empfohlen haben, nicht über die Welt zu sprechen, sondern explizit von der eigenen Welt. Doch so einfach die Regel zunächst auf mich wirkte, so herausfordernd ist es, meine mir vertraute Sprachegewohnheit zu verändern. Immer wieder falle ich in alte Muster. Bei Stange hält mich die Faszination, dass sich durch Veränderung der Sprache auch mein Bewusstsein erweitert. Beispielsweise wechselt meine Aussage „Menschen sind bequem“ seine Bedeutung, wenn ich stattdessen sage „Menschen wirken auf mich bequem“ – oder gar „ich bin bequem“. Stilistisch verschiebt sich zwar nur das Satzsubjekt: von „Menschen“ zu „ich“. Doch aus dieser kleinen Verschiebung resultiert für mich die fundamentale Konsequenz, dass ich mich nicht mehr hinter Sprachfloskeln verstecken kann, sondern die Verantwortung für meine Aussagen übernehmen muss. Aussagen werden für mich dadurch differenzierter, präziser, ehrlicher und respektvoller.
Die Verwendung eines anderen Wortes (z.B. „ich“ statt „Menschen“) verändert meine Welt – so verstehe ich Dialog. Denn der altgriechische Begriff dia-logos bedeutet gemäss Wikipedia „durch das Wort“.
Ich fühle mich wohl, wenn ich so sprechen kann, wie mir der Schnabel gewachsen ist. „Dialogisch“ ist für mich wie eine Fremdsprache, die ich lernen muss, wenn ich sie sprechen will. Und so wie ich auf Feedbacks angewiesen bin, wenn ich die Qualität einer Fremdsprache optimieren will, bin ich auch bei „dialogisch“ auf Rückmeldungen angewiesen.
Wenn Novizen zum Dialog stossen, erläutern wir vor Beginn des Dialogs einige Regeln, was für die anderen Teilnehmenden repetitive Auffrischung ist. Für die weitere Optimierung der Dialogqualität vertrauten wir bisher mehrheitlich der gegenseitigen Vorbildwirkung. Inzwischen haben jedoch diverse Teilnehmende bedauernd bekundet, dass durch diese passive Praxis kaum Fortschritte erkennbar sind. Entsprechend möchte ich im Interesse einer Qualitätsoptimierung mit den Teilnehmenden erörtern, wie wir uns bei Bedarf aktiv dialogisch spiegeln wollen.
In diesem Sinne wünsche ich allen ein tolles 2020
November 2019
Wer ist kein Schneeflöckchen?
Vor kurzem sah ich „Joker“, den neuen Film von Todd Phillips. Joachim Phoenix spielt die Rolle des titelgebenden Clowns. Die Geschichte ist vielschichtig, ich wähle einen möglichen Erzählstrang. Aus einer Mischung von Veranlagung, überfordertem Elternhaus und aggressiver Gesellschaftsstruktur krallt sich der Protagonist Arthur Fleck mühsam an eine halbwegs bürgerliche Existenz. Doch seine Ressourcen reichen nicht, um im brutalen Alltagsdschungel seine Würde zu sichern, er wird immer mehr vom Subjekt zum Objekt degradiert. Zufällig gelangt er in den Besitz einer Pistole. Damit werden nun in einer Gesellschaft, die sich einbildet, das primitive Faustrecht überwunden und eine Zivilisation ohne Brachialgewalt errichtet zu haben, die Karten neu gemischt. Joker ist nicht der grosse Rächer – aus einer durch ihre Häufigkeit schon fast banal wirkenden Demütigung werden drei von ihrem ökonomischen Erfolg arrogant gewordene Typen die ersten Opfer von Jokers Verteidigungsreflex. Doch die Medien stilisieren Joker zum Befreiunsinitiator eines prekarisierten Gesellschaftssegments. Die Revolution bricht aus, und die marginalisierte Masse verhilft Joker zu unverhofftem Ruhm und Anerkennung.
Der folgende Austausch im Bekanntenkreis ergab zwei Hauptinterpretationen dieser von mir natürlich bereits ideologisiert wiedergegebenen Geschichte:
a) Der Film sei eine ethische Katastrophe, weil er ein Script propagiere, das Menschen zur Vorlage für ihre Suche nach Anerkennung machen können, die sich als Opfer fühlen. Die These wird dadurch gestützt, dass 2012 bei der Vorführung einer Joker-Verfilmung (mit Heath Ledger in der Rolle des Jokers) zwölf Menschen durch einen Amokschützen getötet wurden.
b) Der Film sei ethische sehr wertvoll, weil er sensibilisiere, alltäglich Diffamierung als solche zu erkennen. Das könne jedem Individuum zur Erkenntnis verhelfen, seinen kleinen Beitrag zu leisten, dass sich keine Amokschützen mehr bilden.
Die Wahrnehmung von Möglichkeiten scheint anspruchsvoll zu sein, wenn sie eine Veränderung der eigener Haltung erfordert. So ist es für mich nicht erstaunlich, dass in Zeiten, wo viele marginalisierte Gesellschaftssegmente die Respektierung ihrer Würde einfordern, postwendend die Pauschaldiffamierung erfolgt: was sind das für Schneeflöckchen, die ein bisschen Klartext nicht ertragen. Charmant finde ich dabei allerdings den selbstoffenbarenden Aspekt, dass diese Retourkutsche seinerseits eine grosse Verletzlichkeit sowie ein Bedürfnis nach mehr Anerkennung manifestiert.
Oktober 2019
Fördert Verurteilung die Kooperation?
Mir gefällt der Gedanke, dass Systeme (Individuen, Organisationen, Gesellschaften) gute Gründe für ihr jeweiliges Verhalten haben. „Gut“ in Sinne von „das Beste, was im Moment mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen möglich ist“. Ein bestimmtes Verhalten repräsentiert meistens einen Mix von eher unbewussten und sich zum Teil widersprechenden Bedürfnissen. Entsprechend schwer fällt es mir meistens, genau zu benennen, warum ich etwas gemacht oder nicht gemacht habe (was mein guter Grund war) – denn, äs isch kompliziert.
Wenn jedoch jemand eine gesellschaftliche Drift so differenziert beobachtet und reflektiert, dass eine Geschichte guter Gründe resultiert, dann bin ich stets sehr interessiert. Seit einiger Zeit interessiert mich, warum beispielsweise liberale Demokratien in der Krise stecken, Marktwirtschaft und Freihandel einen Legitimationsverlust erleiden, sozialdemokratische Parteien von rechtsnationalen verdrängen und immer häufiger autoritäre Politiker gewählt werden. Der Zeithistoriker und Kulturwissenschaftler Philipp Ther forscht bei diesen Themen genau nach den Bedürfnissen, welche Gesellschaften durch ein bestimmtes Verhalten befriedigen wollen. Mit seinem Buch „Das andere Ende der Geschichte. Über die grosse Transformation“ reagiert er auf den berühmten Aufsatz „Das Ende der Geschichte“, den der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs verfasst hatte. Francis Fukuyama prognostizierte damals, dass sich nun die freie Marktwirtschaft sowie die liberale Demokratie uneingeschränkt ausbreiten können. Wie die oben erwähnten Spannungsfelder zeigen, hat sich die Geschichte anders entwickelt. Gemäss Philipp Ther scheinen Gesellschaften zwischen den Bedürfnissen nach Freiheit oder Sicherheit zu pendeln. Er kann eine, verurteilungsfreie wertneutrale Geschichte erzählen:
Zur Zeit der Wende erreichte die Produktivität des Ostblocks nur knapp einem Drittel der westlichen Produktivität. Um den Osten wirtschaftlich zu befeuern (im Sinn von befreien), verordneten ihm westliche Investoren eine strenge Sparpolitik (Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung). Im Interesse des Freiheitsgewinns unterstützten auch Linke und Gewerkschaften das Programm, obwohl damit die teure soziale Sicherheit weitgehend eliminiert wurde. Bezüglich Produktivität war der Erfolg weltgeschichtlich fast einmalig: in 25 Jahren hatte der Osten seinen Rückstand bereits halbiert. Diese Erfolgsquote bildete jedoch die Massen von Transformations-Verlierern nicht ab. Und die Linke war von ihrer eigenen Transformation so absorbiert, dass sie das wachsende Bedürfnis nach sozialer Sicherheit einer schwachen Gesellschaftsschicht als störende Renitenz bewertete. Somit öffnete sich ein freies Feld für Wut-und Protestpolitik. Die rechtskonservative und nationalistische Partei in Polen beispielsweise gewann die Regierungsmehrheit auch deshalb, weil sie nebst „Heimatschutz“ (stopp Globalisierung, stopp Migration etc.) auch Kinderzulagen versprach, welche die wirtschaftliche Not vieler Familien massiv entspannte.
Nach meiner Beobachtung sind Kurskorrekturen leichter möglich, wenn die Analyse sich das Ziel setzt, Bedürfnisse statt Sündenböcke zu benennen. Denn mit Sündenböcken ist kaum eine Kooperation möglich, bei Bedürfnissen kann jedoch zusammen ein alternativer Weg zur Befriedigung gesucht werden. Der Vorwurf, dass die Linke gepennt hat und sich vom Kapital vereinnahmen liess, wird sicher weniger Lust auf Kooperation auslösen als die Würdigung, dass sie sich der Förderung der Freiheit verpflichtet habe. Auf der anderen Seite keimt wohl weniger Lust nach Zusammenarbeit, wenn sie als rassistische Looser mit diffusen Ängsten beschrieben werden statt als Menschen mit legitimen Bedürfnissen nach Anerkennung und Sicherheit.
Quelle: „Was nach der Wende versäumt wurde“, Tages Anzeiger vom 12.10.2019
September 2019
Sind Beziehungen das Allheilmittel?
Mit der Extremismus- und Terrorismusforscherin Julia Ebner erschien im Zusammenhang mit ihrem neuen Buch „Radikalisierungsmaschinen“ (gemeint sind damit Social Media-Plattformen) am 21.09.2019 ein Interview im Tages-Anzeiger. Über Jahre hatte sie an Foren und Chats von radikalen Onlinecommunities teilgenommen. Frau Ebner zeichnet sich für mich mit einer „dialogischen“ Wissenschaftlichkeit aus, indem sie sich inhaltlich wohl von ihren „Studienobjekten“ abgrenzt, diese Gruppierungen formal jedoch respektvoll und ohne Verurteilung beschreibt. Zentral scheint mir, dass sie ihre Beobachtungen so formuliert, dass auch die Beobachteten zustimmen können – zum Beispiel, dass sich der Kampf im Internet nicht gegen Individuen oder Gruppen richte, sondern gegen das Schlechte im Menschen.
Ich bezweifle, ob Carolin Emcke mit ihrem preisgekrönten Bestseller „Gegen den Hass“ diese Zustimmung der analysierten Gruppen auch bekommt, wenn sie beispielsweise schreibt, dass den Hassenden die Fähigkeit zu Ironie und Selbstzweifel abgeht.
Die Zustimmung als Signal des sich Verstandenfühlens dient somit als Basis für weiterführende Interaktionen, z.B. Deradikalisierungsmassnahmen. Eine Formulierung, die Zustimmung erzeugt, kann somit als Form von Beziehungsangebot gesehen werden. Und Julia Ebner bestätigt, dass Deradikalisierung am besten funktioniere, wenn bei den Leuten auf emotionaler Ebene Vertrauen geschaffen werden kann.
Ein Austausch mit verhärtet wirkenden Positionen verspricht offenbar durch passende Beziehungsangebote Erfolg. Das würde auch den zahlreichen Studien entsprechen, die in der Beziehungsqualität den wichtigsten Erfolgsfaktor erkennen für Beratung, Schule und Therapien etc.
August 2019
Wird der Konstruktivismus Mainstream?
Vor über zehn Jahren lernte ich im Rahmen meiner Beratungsausbildung den „erkenntnistheoretischen Konstruktivismus“ kennen (im Gegensatz zum kunsthistorischen Konstruktivismus). Das war für mich ein aufwühlendes Angebot, meine Welt anders wahrzunehmen. Bei meinem Medienkonsum stiess ich plötzlich auf „konstruktivistische“ Zeichen, die ich vorher nicht als solche gedeutet hatte (z.B. kehrten Roger Federer und Rafael Nadal die sonst im Sport übliche „Feindschaft“ zu freundschaftlicher Konkurrenz). Es war, als hätte ich eine seltene Pflanze kennengelernt – war die Pflanze vorher einfach nur eine Pflanze unter vielen, wurde sie nun bei jeder Begegnung zu einer „seltenen“ Pflanze und somit zu etwas Speziellem, was mich erfreute. Weil ich auf immer mehr Konstruktivismus stiess, hatte ich Lust, für meine Abschlussarbeit eine Erhebung über die Bedeutung des Konstruktivismus in der Gesellschaft zu verfassen. Wirkten die vielen Zeichen auf mich damals wie ein Wachstumsphänomen, kam ich mit der Zeit zur Einschätzung, dass der Konstruktivismus in der Gesellschaft wohl höchstens eine niedrige Wachstumsquote hat. Doch es gibt Zeichen, dass sich dieser Prozess eventuell beschleunigt.
Schon mehrmals habe ich mich in meinen Texten mit dem Wahrheitsanspruch von Kulturschaffenden und Medien beschäftigt. Ich habe Beispiele von differenzierendem Journalismus erwähnt, weil in meiner Wahrnehmung ein Grossteil der Medien durch die Art ihrer Berichterstattung (verurteilend, abwertend) für genau die Phänomene (mit-) verantwortlich sind, die sie anprangern (z.B. „minderbemittelte AfD-Wähler“). Natürlich wollte ich dabei konstruktivistisch bleiben. Das heisst für mich, nicht selber in die Verurteilungsfalle zu tappen, sondern eben auch die guten Gründe der Medien einzuschliessen. Nun bin ich auf das Buch „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ der Neurowissenschaftlerin und Journalistin Maren Urner gestossen („Medien müssen lösungsorientierter werden“). Darin spiegelt sie dem Journalismus die Beobachtung, sich seiner Subjektivität zu wenig bewusst zu sein. Das verführe den Berufsstand zur Annahme, dass er objektiv sein könne. Selbstverständlich verurteilt sie unbewusstes Verhalten nicht, sondern hofft, durch die Darstellung ihrer Analyse eine neue Lernbereitschaft auszulösen.
Für mich besteht Grund zur Hoffnung, dass der konstruktivistische Ansatz durch dieses Buch eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz erfährt, denn aktuell sei bereits die dritte Auflage im Druck.
Juni 2019
Ist es still beim Schweigen?
Die Einladung zum Dialog-Konstruktiv verschicke ich jeweils ein paar Tage vor dem Dialog. Wenn ich mich heute eine Woche früher melde, liegt der gute Grund in der Veranstaltungswoche „STILLES ZÜRICH“ (Sonntag 23. bis Sonntag 30. Juni 2019). Denn auch der Dialog-Konstruktiv vom 27. Juni wurde in das Programm aufgenommen, was mich sehr freut. Allenfalls findet sich unter den rund 60 Angeboten auch passende Veranstaltungen für Sie – gerne weiterempfehlen: www.stilles-zuerich.ch
Doch was legitimiert eigentlich eine Gesprächsveranstaltung für das Label „still“? Zeichnet sich Stille nicht dadurch aus, dass eben nicht gesprochen wird? Beim Bohmschen Dialog wird bekanntlich die Gesprächsdynamik mit Hilfe eines sogenannten Sprechobjektes gebremst – wir benutzen einen Ball, der zu sich genommen und nach dem Votum wieder in die Mitte gelegt wird. Allein schon durch dieses mechanische Prozedere entstehen Unterbrüche und somit stille Momente. Es erstaunt mich immer wieder, wie die Entschleunigung einerseits Stille schafft und anderseits Reflektionsraum öffnet. Denn am deutlichsten höre ich die Vielschichtigkeit meiner inneren Stimmen bei äusserer Stille. Dass ich diese „Mitteilungen aus dem Innern“ in Worte fassen und an andere richtend auf ihre Stimmigkeit prüfen kann, ist – im Gegensatz zum solistischen Reflektieren – für mich ein grosser Vorteil des Dialogs. Heinrich von Kleist hat diesen Prozess in seinen bekannten Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ beschrieben.
Mai 2019
Ist Konspiration spirituell?
Wie bereits in meinem letzten Einladungstext lasse ich mich nochmals von einem Artikel im Magazin „Zeitpunkt“ (März/April 2019) inspirieren. Es geht um die Art, wie wir die Geschichte des irdischen Lebens erzählen und dadurch unser Gefühl von „Natürlichkeit“ kultivieren.
Unabhängig davon, ob vor rund 3,5 Milliarden Jahren organisches Material und somit „Leben“ auf der Erde selber gebildet wurde oder durch Meteoriten auf die Erde gelangte – offenbar mussten sich anorganische Moleküle unter idealen Bedingungen so verbinden, dass aus einem chemischen Prozess ein biologisches Produkt resultierte – reproduktionsfähige Einzeller. Seither scheint dieses Leben das Ziel zu verfolgen, jeden Winkel der Erde zu besiedeln, und dabei auch immer komplexer zu werden: von Mikroorganismen über Pilze, Pflanzen und Tieren bis zum Menschen. Gemäss klassischer Lehre beruhe dieser Expansionsprozess auf zwei Naturgesetzen: mit statistischer Regelmässigkeit passieren bei der reproduktiven Zellteilung zunächst Fehler (Mutation), welche unter veränderten Umweltbedingungen einen Überlebensvorteil ermöglichen können (Selektion). Das Narrativ laute, dass sich Stärke durchsetzt – das Prinzip nennt sich Konkurrenz.
Doch schon Darwin soll erkannt haben, dass seine Theorie der natürlichen Auslese noch weiterer Ergänzungen bedarf. Die Basis dafür soll der russische Geograph Pierre Kropotkin gelegt haben. Als Zeitgenosse kritisierte er Darwins Konkurrenz-Theorie als monokausal und unterkomplex. Aufgrund seiner naturwissenschaftlichen Beobachtungen stellte er die Frage, welche Arten im unerbittlichen Existenzkampf wohl die Tüchtigeren seien – „jene, die ständig miteinander im Krieg seien oder jene, die einander unterstützen?“. Die Kooperations-Theorie wurde allerdings kaum in den wissenschaftlichen Kanon aufgenommen. Der gute Grund dafür scheint in der grossen Herausforderung zu liegen, welche gegenläufige Theoriemodelle für die Naturwissenschaft darstellen, da sie Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit anstrebe (siehe auch den „Welle-Teilchen-Dualismus“ des Lichts, welcher erst durch die Quantenmechanik aufgelöst werden konnte).
Doch wenn wir die gegenläufigen Prinzipien akzeptieren, ergibt die Geschichte des Lebens eine faszinierende Differenzierung. Denn während die Konkurrenz als implizites Programm der Reproduktion bei der Zellteilung automatisches ablaufe, müsse bei der Kooperation explizit von einem „konspirativen“ Impuls ausgegangen werden. Wobei der Begriff des gemeinsamen Atmens (con spirare) sich sehr schön auf die Bedeutung einer gemeinsamen Idee im Sinne eines gemeinsamen Geistes (spirit) bezieht.
Wir können wohl davon ausgehen, dass sehr hierarchische Interessen dahinter stecken, wenn in den Schulen ausschliesslich die Konkurrenz als „natürlicher“ Antrieb für Entwicklung und Fortschritt vermittelt wird. Entsprechend steckt viel konspirative Energie darin, unser Empfinden von Natürlichkeit mit dem Konzept der Kooperation zu erweitern.
So freue ich mich, Euch auf eine tolle Kooperative aufmerksam zu machen: vor einiger Zeit hat sich ein Schweizer Netzwerk für Dialogkultur gebildet: willkommen auf www.dialogkultur.ch
April 2019
Sind Halbwahrheit „fake news“?
Nach meiner Beobachtung werden wir durch unsere öffentlichen und privaten Medien sehr gut darüber informiert, dass der venezolanische Präsident Nicolás Maduro sein Volk immer mehr leiden lässt, und dass sich folglich der Parlamentschef Juan Guaidó mit amerikanischer Unterstützung zum Übergangspräsidenten ausgerufen hat. Durch diese Medien erhielt ich das bewertende Bild, dass Maduro ein übler Bursche sei und der junge und sympathische Guaidó die Rettung für das gebeutelte Land wäre. Bedeutend weniger gut informiert fühle ich mich bezüglich den guten Gründe des linken Politikers Maduro, seinem Volk nur noch mangelhafte Ernährung und kaum mehr Medikamente zukommen zu lassen.
Das kleine, unabhängige Magazin „Zeitpunkt“ (Nr. 160, März/April 2019) berichtet im Fall Venezuela nicht nur, WAS passiert, sondern erkennt die zentrale politische Bedeutung in der WARUM-Frage. So beschreibt es, dass Venezuela sich dieselbe Absicht erlaubt habe wie zuvor bereits Irak, Libyen oder der Iran: nämlich das Erdöl in anderen Währungen zu verkaufen statt ausschliesslich in Dollar. Da die Ölpreisbindung an den Dollar den USA eine hegemoniale Macht gebe, wollten die genannten vier Länder diesen für sie unfairen Deal umgehen – mit der Folge, dass Amerika diese Länder wirtschaftlich sanktionierte und zum Teil sogar militärisch interventionierte. Aus dieser Optik leidet das venezolanische Volk nicht, weil Maduro irgendwie abnormal ist, sondern weil Amerika mit den Wirtschaftssanktionen das Volk gegen den widerständigen Präsidenten mobilisieren will.
Ob die Darstellung des Zeitpunkt-Magazins richtig ist, bleibt für mich sekundär. Mich stört, dass ich von unseren grossen Medien die andere Sichtweise eines Konfliktes kaum vermittelt bekomme. Ich merke, wie ich gegenüber diesen grossen Medien misstrauisch werde. Und ich kann verstehen, wenn Menschen durch diesen Vertrauensverlust das simple Gefühl beschleicht, dass sie mit „fake news“ bedient werden und sich folglich frustriert in ihre eigenen Echoräume zurückziehen.
Für mich entspricht es einer dialogischen Haltung, dass mein Erleben nur ein Teil eines komplexen und dynamischen Ganzen ist. Um näher an das Ganze zu kommen, interessieren mich andere Sichtweisen.
März 2019
Wächst Unbehagen exponentiell?
Am 28. März findet unser nächster Dialog statt, und ein Tag später ist der offizielle Termin für den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union – eventuell gibt’s noch ein paar Wochen Aufschub. Mehr als zweieinhalb Jahre reichten der Regierung nicht, um eine mehrheitsfähig Austrittsvereinbarung zu finden. Der ungeordnete Exit jedoch droht mit riesigem Chaos- und Gewaltpotential, so dass bereits die Armee mobilisiert wurde. Die Befürworter des Exits hatten schon im Vorfeld mit einer Eskalation gedroht, falls das Ergebnis der Volksbefragung nicht respektiert werde. Europa im 21. Jahrhundert – wie konnte das passieren?
Gemäss einer Hypothese gründet das Unbehagen der Bevölkerung in der Politik von Premierministerin Margaret Thatcher (1979 – 1990). Ihre Politik führte zu grosser Erwerbslosigkeit und zur Vernachlässigung der Infrastruktur. Der Frust vor allem der ländlichen Bevölkerung hatte rund 40 Jahre lang kaum politische Auswirkungen. Zwar hatte er deutlich zugenommen, als auch der sozialdemo- kratische Premier Toni Blair (1997 – 2007) die Verlierer der Globalisierung ignorierte. Und selbst nach der Finanzkrise ab 2008 stieg die Wachstumskurve des Unmuts weiterhin zu flach, um als systembedrohend wahrgenommen zu werden – entsprechend sahen sich die Profiteure der wirtschaftlichen Umverteilung nicht genötigt, die Geldflüsse umzuleiten.
Steigt eine Wachstumskurve flach an, wird sie als linear und somit prognostizierbar empfunden. Weil jedoch auch Exponentialkurven zu Beginn lange sehr flach ansteigen, wird die Gefahr des plötzlichen steilen Anstiegs kaum erkannt (im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung wird die Exponentialkurve wegen ihrer formalen Ähnlichkeit häufig als Hockeyschläger-Kurve bezeichnet). Sowohl bei der Wahl von Donald Trump als auch vor der Brexit-Abstimmung verlief die Unmutskurve immer noch so flach, dass auf weite Sicht keinen Umbruch zu erwarten war. Doch plötzlich stieg sie so rasch, dass kaum noch Zeit für eine eskalationsprophylaktische Änderung gegeben war.
Für mich ist der Einbezug des Exponentialrisikos somit ein wichtiger dialogischer Aspekt.
Februar 2019
Wird durch Kommunikation alles noch schlimmer?
In letzter Zeit habe ich immer wieder gelesen, dass Initianten von Diskussionsveranstaltungen vor der Frage standen, ob sie auch Vertreter von sogenannt „populistischen“ Parteien einladen sollen. Das Dilemma scheint darin zu bestehen, dass einerseits an das meinungsbildende und zivilisierende Potential des Gesprächs geglaubt wird, anderseits jedoch viele aktuelle Beispiele zur gegenteiligen Erfahrung führten, dass Populisten die Plattform für ihre Polarisierungsbestrebungen missbrauchten und ihre politischen Gegner diffamierten.
Indifferenz und Selbstprofilierung durch Verunglimpfung des Gegners scheint allerding nicht nur eine Methode der Populisten zu sein. So prägte z.B. die Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation Schweiz im Rahmen der parlamentarischen Erweiterung der Rassismus-Strafnorm zwar den Leitspruch, Diskriminierung sei keine Meinungsfreiheit, sondern ein Verbrechen. Weil ihre politischen Gegner den Einbezug von Homosexuellen in die Strafnorm jedoch mittels Referendum bekämpfen möchten, bezeichnete die Geschäftsleiterin ihre politischen Gegner als „reaktionäre Affen“.
Solcherlei hindern den Geschichtsredaktor der NZZ jedoch nicht daran, die „hiesige Tradition der Konsensfindung, des Kompromisses und des Ausgleichs“ zwar als sympathische Eigenschaften, jedoch als „Gift“ für die Satire zu bezeichnen. Er bezog seine Kritik auf das neue TV-Satireformat von Michael Elsener. Elseners Vorgänger und studierte Philosoph Mike Müller antwortete dem NZZ-Kritiker via Twitter: «Wenn Du nicht einmal zwischen Improvisation und Skript unterscheiden kannst, ist eine DNA-Analyse des Volkskörpers hinsichtlich seiner Humorfähigkeit für Dich vielleicht ein paar Stufen zu hoch». Und nur wenige Retweets später wird zwischen den beiden Akademikern tatsächlich der Nazivergleich bemüht.
Eine dialogische und somit nichtdiffamierende Kommunikation mag auf Anhieb allenfalls fade wirken, scheint jedoch intellektuell äusserst anspruchsvoll zu sein. Darum üben und praktizieren wir den Dialog weiterhin – und heissen Sie dazu herzlich willkommen.
Januar 2019
Wer glaubt noch an die Wahrheit?
Für die Stabilität von Gesellschaften mag es lange Zeit von Vorteil gewesen sein, an die Wahrhaftigkeit eines Schöpfungsgottes zu glauben. Zwar können wir heute spirituell sein ohne an die Existenz eines sogenannten Gottes glauben zu müssen. Doch das Wesen der Wahrheit scheint sich noch nicht emanzipiert zu haben.
So schwingt zwar beim Titel „FAKE. Die ganze Wahrheit“ einen Hauch von Skepsis gegenüber dem Wahrheitsbegriff mit, wenn das Stapferhaus Lenzburg zur aktuellen Ausstellung ins adrette neue Gebäude einlädt. In der Ausstellung selber habe ich von dieser Skepsis jedoch nichts mehr gespürt. Dass die Idee einer sogenannten „Wahrheit“ selber eine Konstruktion und damit alles andere als wahr sein könnte, wird leider nicht einmal in Erwägung gezogen (passend scheint mir an dieser Stelle wieder mal der Gedanke von Heinz von Foerster, wonach Wahrheit die Erfindung eines Lügners sei).
Und nach der Entlarvung des „optimierenden“ Journalisten Claas Relotius beteuerten sämtliche Redaktionen, dass kein Meinungsjournalismus akzeptiert werde, sondern nur objektive Berichterstattung. Sie vermitteln damit ihren Konsumenten das Gefühl, dass es so etwas wie Objektivität und Wahrheit gebe, und dass sie die Wahrheit sogar besitzen. Dieses Dogma wird subtil gestützt, indem auch Artikel unter der Überschrift „Kommentar“ oder „Meinung“ publiziert werden. Das soll mich wohl im Glauben bestärken, dass die andern Artikel frei von persönlichen Prägungen der Journalisten und Journalistinnen sind.
Nun, die Kirche verdrängte lange, dass die Menschen sich nicht mehr gängeln liessen durch die Angstmacherei mit Hölle und Fegefeuer. Ebenso wollten die klassischen Medien lange nicht wahrhaben, dass die Menschen sich nicht mehr diffamieren lassen, wenn sie das Weltgeschehen anders bewerteten als die Redaktionen – und diese Medien somit als falsch empfanden. Der Tages-Anzeiger z.B. stellte 2013 dem Schweizer Autor und Philosophen Jonas Lüscher nach den Abstimmungen zum Minarettverbot, der Ausschaffungsinitiative und der Verschärfung des Asylrechts unter dem Titel „Die unanständige Mehrheit“ eine ganze Doppelseite für eine äusserst arrogant wirkende Publikumsbeschimpfung zur Verfügung.
Solange die Medien daran glauben, dass es „Objektivität“ gibt, werden sie das Potential dialogischer Bericht-erstattung kaum erkennen. Unter dialogischem Journalismus verstehe ich das Bewusstsein, dass individuelle Prägung auch die Arbeit prägt und somit stets subjektive Aspekte einfliessen. Er ermöglicht also die Haltung, dass ein bestimmter Sachverhalt eben auch anders dargestellt und bewertet werden kann. Ganz beiläufig würde damit den sogenannten Populisten das Wasser für ihre „alternativen Wahrheiten“ entzogen. Natürlich ist damit das Propagandaproblem noch nicht behoben, aber die dialogische Haltung bietet wahrscheinlich eine vertrauens-bildendere Ausgangslage 🙂
November 2018
Verdient der Begriff „egozentrisch“ seine negative Bewertung?
Bei einem der letzten Dialoge äusserte jemand die Hypothese, dass der Bohmsche Dialog wohl deshalb kaum zu einem Breitenphänomen werde, weil es zu anspruchsvoll sei, von sich selber zu sprechen. Letzte Woche konnte ich im Rahmen der „langen Nacht der Philosophie“ einen Bohmschen Dialog anbieten. Es kamen erfreulich viele Dialog-NovizInnen. Viele von ihnen waren (zunächst) konsterniert über die Bedeutung des Ichs beim Bohmschen Dialog. Wenn ich die diversen Äusserungen komprimiere, resultiert daraus, dass Egozentrik doof sei und sicher keine erstrebenswerte Zierde. Natürlich kenne ich auch Menschen, die mit einer mir unliebsamen Selbstdarstellung sämtliche Gespräche dominieren. Und bevor ich den Konstruktivismus kennenlernte, habe ich den Begriff auch in der negativen Konvention verwendet. Als Konstruktivist vertrete ich allerdings die Ansicht, dass Menschen nur egozentrisch sein können, und dass diese Eigenschaft somit neutral und nicht negativ ist. Früher habe ich den Begriff „egozentrisch“ sehr synonym mit narzisstisch verwendet – entsprechend muss ich nun wohl sagen dass ich mir für den Dialog Egozentrik mit gedämpftem Narzissmus wünsche. Wobei Narzissmus natürlich auch ein Wort mit grossem Diskussionspotential ist. Doch hat da nicht mal jemand gesagt, dass der Dialog das Gespräch nach der Diskussion sei?
Oktober 2018
Wie aggressiv muss das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit sein?
Im MAGAZIN vom 29.September 2018 umreisst der Spiegelkolumnist und Autor Georg Diez ein Kommunikationsdilemma. Er baut die nachvollziehbare These auf, dass verdiente (Links-)Intellektuelle bereits ab den 1970er-Jahren ein Gedankengut vorbereiteten, auf dem nun Pediga und AfD gedeihen. Denn Günter Grass und Martin Walser beispielsweise hätten wortgewaltig eine Mentalität diffamiert, die ihnen ein Schuldgefühl von Hitlerwahl bis Holocaust aufzwinge. Für Diez scheint die ermüdende Frage nach der Meinungsäusserungsfreiheit allerdings kein Dilemma zu sein – er diffamiert nun die Leute, die nach seiner Meinung den Kompass verloren haben. Auch wenn ich mit der Analyse übereinstimme – von der Abwertung distanziere ich mich. Diffamierung bewirkt bei mir das Gegenteil dessen, was ich als Ziel wahrnehme – weil ich Diffamierung als ungute Aggression empfinde, weil ich hinter der Diffamierung eine Haltung von Rechthaben sehe, weil Diffamierung meistens auf Menschen statt auf Verhalten zielt.
Ich frage mich, ob die Aufmerksamkeitsökonomie ausschliesslich mehr Aggressivität empfiehlt?
Am Sonntag haben sich gegen 4‘000 Menschen an der Aktion „Die Schweiz spricht“ beteiligt. Sie hatten bei der Anmeldung ein Set zu gesellschaftlichen Fragen beantwortet und sich dadurch profiliert. Aus diesen Profilen hat ein Algorithmus möglichst unterschiedliche Paarungen generiert, die sich nun über ihre Standpunkte austauschten. Auch wenn allen klar war, dass es hier nicht um handfeste Interessen ging, schienen die meisten Teilnehmenden überrascht gewesen zu sein, wie einig man sich bezüglich übergeordneter Ziele war. Mir scheint, miteinander in Beziehung zu treten kann durchaus aggressionsfreie Aufmerksamkeit ermöglichen.
Ich freue mich sehr, dass die dialogisch Kompetenz der respektvollen Aufmerksamkeit (respektvoll im Sinne von „nicht verurteilen, nicht diffamieren“) so erfolgreich praktiziert wurde. Die Aktion hat schon in verschiedenen Ländern stattgefunden und soll weitergeführt werden.
Auch am Donnerstag, 15. November 2018 kann der Dialog praktiziert werden – unter dem Titel „Experimentelles Denken – Reflexionserfahrung durch Bohmschen Dialog“ beteiligt sich Dialog-Konstruktiv an der Langen Nacht der Philosophie (von 16 – 18 Uhr im Kulturmarkt, Aemtlerstrasse 23, 8003 Zürich). https://www.langenachtderphilosophie.ch/
September 2018
Ist der Dialog philosophisch?
Eine Antwort könnte lauten: der Bohmsche Dialog basiert auf dem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus, und die Erkenntnistheorie ist eines der Hauptsegmente der Philosophie, somit kann ich dem Dialog wohl zumindest philosophische Komponenten zusprechen. Damit war für mich die Frage jedoch erst gestellt und noch nicht beantwortet, ob ich mich mit einem Dialog an der diesjährigen „Langen Nacht der Philosophie“ beteiligen möchte. Geklärt hat sich mir die Frage dadurch, wie ich den Dialog an diesem Anlass ankündigen könnte:
Experimentelles Denken – Reflexionserfahrung durch Bohmschen Dialog
Mit andern Worten – wir sind dabei: am Donnerstag, 15. November 2018 (von 16 – 18 Uhr im Kulturmarkt, Aemtlerstrasse 23, 8003 Zürich). Denn für mich ist es klar eine philosophische Handlung, wenn ich meine Position im persönlichen und soziopolitischen Umfeld reflektiere.
Folgender Text erscheint auf der Homepage www.langenachtderphilosophie.ch/
Für den Quantenphysiker David Bohm (1917-92) werden Auseinandersetzungen zu oft von verdeckten oder unbewussten Interessen dominiert. Er entwickelte Reflexions- und Gesprächselemente, um das Dilemma zwischen Individual- und Gesamtinteressen transparent und damit gestaltbar zu machen. Die Welt verändere sich „durch das Wort“ (dia logos).
Wutbürger, Diffamierungen in den Sozialen Medien, Wahlerfolge von autoritären Politikern, nationalistische Separationen etc. – immer häufiger werden solche Phänomene als Gewalt und somit als Zeichen von individueller und kollektiver Überforderung gedeutet. Die Gesellschaft steht vor einem Dilemma, weil sie einerseits reagieren muss, anderseits verurteilende oder repressive Reaktionen selber Gewalt darstellen und somit zur Eskalation verleiten.
Viele Menschen erkennen im dialogischen Gespräch ein Instrument zur Überwindung dieser Zwickmühle. Die Herausforderung liegt in der radikalen Öffnung der eigenen Position. Das Wort des Gegenübers kann mich irritieren und inspirieren. Die Bereitschaft, sich urteilsfrei auf andere Positionen einzulassen, kann auch als Beziehungsangebot wirken. Die andere Position interessiert mich, egal ob sie mich auf- oder anregt. Beim Dialog werden die eigenen Gedanken und Worte permanent beobachtet und darauf konditioniert, eigene Empfindungs- und Bewertungsmuster zu erkennen und allenfalls umzuformen. In dieser Haltung kann mich auch das eigene Wort irritieren und bewegen.
Das Gesprächsthema wird jeweils aus dem Moment generiert, weil beim Dialog die Art des Sprechens zentraler ist als der Inhalt. Und bekanntlich war „im Anfang das Wort“.
Zunächst hatte ich geplant, im Oktober ähnlich wie letztes Jahr anstelle des Donnerstags-Dialogs an einem Samstag-Nachmittag einen grösseren Themendialog zu veranstalten. Doch damit mir der Organisationsaufwand nebst der Teilnahme an der „Langen Nacht“ nicht zu gross wird, findet im Oktober ein regulärer Dialog statt (am vierten Donnerstag des Monats: 25.10.2018).
August 2018
Lob der Indifferenz?
Vor Jahren stiess ich auf die Aussage, das Gegenteil der Toleranz sei nicht Intoleranz, sondern Indifferenz. Seither faszinieren mich die kleinen Unterschiede (Differenzen) und führen mich bei argumentativen Engpässen zur Annahme, dass ich den zur Diskussion stehenden Sachverhalt wohl noch zu wenig ausdifferenziert habe.
In jüngster Zeit habe ich jedoch festgestellt, dass mich Begriffsdifferenzierungen langweilen, wenn ich die Begriffe mehr oder weniger synonym verwende (z.B. Gefühle und Emotionen). Ist es möglich, dass das Ausdifferenzieren gar nicht immer wünschenswert ist? Ich erinnerte mich auch an einen Artikel mit der These, dass die Unterscheidung von Homo- und Heterosexualität in der Menschheitsgeschichte relativ jung sei. Obwohl das Phänomen wohl seit jeher existiert, schien diese Unterscheidung bedeutungslos gewesen zu sein. Kann es sein, dass mit der Differenzierung auch ein Instrument für Diffamierung und Ausschluss geschaffen wurde?
Vor einem Monat haben unsere Medien berichtet, dass – im Gegensatz zur Schweizer Verfassung – der Begriff „Rasse“ in der französischen Verfassung gestrichen wurde. Die wissenschaftliche Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass unterschiedliche Augenformen oder Hautfarben nur Phänomene und keine Rassenmerkmale sind – wir gehören alle zur selben Rasse. Und da es keine unterschiedliche menschliche Rassen gibt, macht auch eine Gleichstellung „ … unabhängig von Herkunft, Religion und Rasse„ keinen Sinn.
Bei der angesprochenen Verfassungsänderung habe Frankreich den Begriff „Rasse“ durch den Begriff „Geschlecht“ ersetzt. Somit wird nun also eine Gleichstellung „ … unabhängig von Herkunft, Religion und Geschlecht“ gewährt. Da stellt sich mir die Frage, ob es statt der geschlechtlichen Differenzierung nicht konsequenter wäre, statt von Männern und Frauen einfach von Menschen auszugehen.
Zu vernehmen war auch, dass New York sich in einer neuen Form von Indifferenz übe. Weil durch die Transgender-Erkenntnisse die geschlechtliche Differenzierung in Männer und Frauen zu unpräzis geworden sei, habe die Stadt ihre öffentlichen Toiletten in Unisex-Kabinen umgestaltet.
Nach der Sommerpause wünsche ich, dass Ausdifferenzierung auch Ihnen zu Komplexitätsreduktion verhilft 🙂
Juni 2018
Können oder wollen?
Es mag eine Legende sein, doch mir gefällt die Geschichte: Roger Schawinski soll 1979 sein Radio24 mit der Jimmy Cliff-Version von „You Can Get It If You Really Want“ eröffnet haben. Sowohl Cliff wie Schawinski haben bewiesen, dass diese Aussage stimmt – beide haben mit hohem Energieaufwand (Wille) ein grosses Ziel erreicht.
Dass der Wille für individuelle Erfolge massgeblich sei, ist jedoch eine perfide Botschaft, da sie nur die halbe Wahrheit abbildet. Der andere Teil vermittelt subkutan, dass erfolglose Menschen selber schuld sind, weil sie sich zu wenig Mühe gegeben haben. Die Botschaft spiegelt somit eine Haltung, die es Bürgern erlaubt, den Sozialstaat mit reinem Gewissen zu pulverisieren.
Als Mitbegründer der Humanistischen Psychologie verwies Carl Rogers vehement darauf, dass ein gesundes Wesen wachsen will. Wichtig an dieser Aussage ist für mich der Verweis auf die Motivation: Menschen wollen. Wie beim Satz von Paul Watzlawick (wir können nicht „nicht-kommunizieren“) resultiert aus Rogers Satz, dass es „Nichtmotivation“ nicht gibt, weil alles Wille ist. Die Frage lautet nicht „Motivation ja oder nein“, sondern „Motivation wofür?“. Die Motivation für sogenannte „Bequemlichkeit“ z.B. kann aus dem Standpunkt von Carl Rogers als mehr oder weniger bewusste Profilaxe vor Überforderung gedeutet werden.
Wenn Menschen etwas nicht erreichen, liegt es nicht am Wollen, sondern am Können. Entsprechend brauchen Menschen keine moralisierende Unterstellungen („… du willst nur nicht“), sondern Befähigung – Menschen wollen, wenn sie können.
Mai 2018
Frieden oder Gerechtigkeit?
Eine „entweder oder“-Frage bereits im Titel! Dabei konnte ich mich diesem verführerischen Entscheidungsdilemma doch schon so oft dadurch entziehen, dass ich es auf seine „sowohl als auch“-Eignung überprüfte. Doch für die Begriffe „Frieden“ und „Gerechtigkeit“ ist die Gleichzeitigkeit meines Erachtens eine heikle Sache. Vor etlichen Jahren hatte ich Israel und Palästina während einigen Monaten bereist und mich seither mit der Geschichte dieser Region beschäftigt. Nun ist der Konflikt durch die Verschiebung der amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem wieder aufgeflammt. Und mantrahaft wird wiederholt, dass man sich „Frieden und Gerechtigkeit“ wünsche.
In meinen Beratungsgesprächen höre ich häufig Geschichten von Menschen, die unter Ungerechtigkeiten leiden, die sie in der Familie, in der Beziehung oder am Arbeitsplatz erlebt haben. Nach meiner Beobachtung leiden alle Menschen unter erlittener Ungerechtigkeit. Unterschiedlich ist meist nur, ob und in welcher Form die Betroffenen die mit der Verletzung verbundene Scham zulassen. Es scheint nachgerade der Sinn von Ungerechtigkeit zu sein, Instabilität zu verursachen, um im Idealfall durch die resultierende Auseinandersetzung zwischen den Parteien eine höhere Stabilität zu erzeugen. Doch wie sieht es aus, wenn das Gegenüber bei sich keine Schuld anerkennen will, auf die Beziehung pfeifft und eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe somit gar nicht möglich ist? Kann Frieden auch unilateral herbeigeführt werden?
Ende Januar erinnerten uns die Medien daran, dass Mahatma Gandhi vor 70 Jahren ermordet wurde. Er hatte sowohl in der Auseinandersetzung mit der britischen Kolonialmacht wie mit den muslimischen Interessensvertretern auf Gewaltfreiheit gesetzt, weil er in der Gewalt keine langfristige Stabilität erkannte. Ermordet wurde der Hindu Gandhi jedoch von einem Hindu. Dieser gehörte zu einer Gruppe, die Gandhis gewaltfreie Verhandlung mit den Muslimen als Verwässerung und Schwächung der hinduistischen Position empfand. Einen Frieden mit Kompromissen bei der Gerechtigkeit war für sie Verrat an der Identität.
Ich erlebe es an mir selber, wie schwierig es sein kann, erfahrene Ungerechtigkeit zu relativieren und diese Kompromisse nicht als Schwäche, sondern als Stärke zu verinnerlichen. Unter diesen Umständen scheint mir Friede und Gerechtigkeit möglich.
PS: es gibt viele gute Gründe, am vierten Donnerstag des Monats jeweils nicht am Dialog-konstruktiv teilzunehmen. Am kommenden Donnerstag kommt noch ein gewichtiger dazu – er heisst Hagen Rether. Man stelle sich vor – der deutsche Kabarettist tritt seit 2003 mit einem Programm auf, das er zwar permanent aktualisiert, jedoch stets mit „Liebe“ betitelt.
Am 24. Mai im Volkshaus Zürich, und am 26. Mai im Casino Winterthur.
April 2018
Ist Schweigen eine dialogische Kompetenz?
Wurde ich bisher nach dem für mich zentralsten Element des Bohmschen Dialogs gefragt, nannte ich jeweils die „dialogische Haltung“. Darunter verstehe ich
-
von meiner Welt zu sprechen statt von der Welt, somit „ich-Botschaften“ zu machen,
-
andere zu respektieren, indem ich Verhalten selbst dann nicht verurteile, wenn ich es für mich nicht akzeptiere,
-
andere im Gespräch ausreden zu lassen.
In letzter Zeit hat es sich bei Dialog-Abenden ergeben, dass wir auf das Element des „Sprechobjektes“ (z.B. ein Ball, der vor den Sprechenden zu sich genommen und danach wieder in die Mitte gelegt wird) verzichtet haben und das Gespräch einfach seinem Fluss überliessen. Einmal setzten wir das Gespräch gar einfach am Tisch fort, an dem wir zuvor die Suppe gelöffelt hatten, und verzichteten somit auf den klassischen Stuhlkreis. Für mich war es ein Versuch: vermag die dialogische Haltung auch ohne die rituellen Elemente ein dialogisches Gesprächserlebnis zu erzeugen? Die Auswertung ergab, dass die beiden Elemente „ich-Botschaften“ und „Respekt“ gleich gut eingehalten wurden wie im rituellen Setting und dem Gespräch sowohl dialogische Qualität wie auch den vertrauensbildenden Rahmen geben konnten. Als anspruchsvoll wurde empfunden, ohne Sprechobjekt die andere Person aussprechen zu lassen. Doch als grösste Differenz im Vergleich zum Gespräch mit Sprechobjekt wurden die dezimierten Gesprächspausen genannt. Ohne die verlangsamende Wirkung des Sprechobjekts hatten die Gespräche mehrheitlich einen flotten Fluss. In der Bewertung nannten zwar einige Teilnehmende diesen Fluss als sehr angenehm, unbeschwert und natürlich. Andere jedoch vermissten die stillen Unterbrüche, die beim Gespräch mit Sprechobjekt oft entstehen und Raum für Reflexion ermöglichen. Einige nannten diese Stille gar als ihr zentralstes Element für eine spezifische Dialogerfahrung.
Vor einem Jahr (Nr.13/2017) widmete DAS MAGAZIN den Bürgern von Finnland zum 100. Geburtstag ihrer Staatsgründung eine Schwerpunkt-Ausgabe – und setzte sich dabei auch mit dem sprichwörtlichen Schweigen der Finnen auseinander. Dieses Schweigen, das für viele Menschen offenbar Ursprung von Langeweile zu sein scheint, hat in der finnischen Sprache den identitätsstiftenden Begriff Oma aika erhalten – für die Zeit, die man mit sich selbst verbringt. In diesem Zusammenhang wird auch auf den Naturforscher Edward Wilson verwiesen. Er habe dem Gefühl der totalen Ruhe, das einem angesichts tiefer Verbundenheit mit der Natur überkommt ebenso wie dem Glückszustand, der darauf beruht, dass nichts geschieht, den Begriff „Biophilie“ gegeben (altgriechisch: bios „Leben“ und philia „Liebe“; wikipedia).
Und einmal mehr lautet für mich die Frage nicht, ob das eine besser sei als das andere (mit oder ohne Ritual), sondern ob es mir gelingt, in beiden Verfahren den jeweiligen positiven Wert zu erkennen und daraus Energie zu schöpfen. In diesem Sinn freue ich mich auf traditionelle wie experimentelle Gäste.
März 2018
Haben Lügen lange Beine?
Eine grosse Studie das Massachusetts Institute of Technology soll durch die Analyse des Twitter-Archivs die Wirkung von Diffamierungen und Lügen untersucht und dabei eine über 300-jährige Aussage des irischen Schriftstellers Jonathan Swift bestätigt haben: „Die Lüge fliegt, und die Wahrheit hinkt hinterher“. Dieser Topos erfreut sich spätestens seit Brexit und der trumpschen Präsidentschaft grosser Beliebtheit. Es gibt ein paar Aspekte, die ihn für mich aus dialogischer Optik interessant machen. Einerseits ist er mir zu unpräzise. Ich glaube nicht, dass es der Lügencharakter ist, der eine Botschaft zum Hype macht, sondern der Sensationscharakter. So wie eine Wahrhaftigkeit sensationell sein kann, kann umgekehrt eine Lüge unglaubwürdig und banal sein. Denn würden diffamierende und gefakte Geschichten immer auf relevante Resonanz stossen, wäre die stadtzürcher SVP bei den Wahlen Anfang März doch erfolgreich gewesen. Aber mit ihrer Propaganda, dass der aktuelle Stadtrat ein „Saustall“ sei, der jetzt ausgemistet werden müsse, machte sich die Partei lächerlich und verlor einen beträchtlichen Sitzanteil.
Ein zweiter Aspekt von Interesse ist der Anspruch, sogenannte Fake News durch Faktenchecks verifizieren zu können. Die Geschichte beispielsweise, wonach Hillary Clinton in einen Kinderpornoring verwickelt sei, der sich durch eine Pizzeria tarne, verwendet überprüfbare Fakten und konnte somit schnell geklärt werden (siehe Pizzagate). Der erwähnte Saustall-Slogan der SVP jedoch verwendet den Begriff ja nicht im realistischen und somit überprüfbaren Sinn, sondern als Metapher. Er ist eine subjektive Einschätzung, auch wenn die Verfasser ihre Botschaft aus Marketinggründen natürlich als absolute Tatsache zu verkaufen versuchen. Doch wie soll diese Einschätzung verifiziert werden? Ohne gegenseitig anerkannte Beurteilungskriterien wie z.B. Finanzhaushalt oder die vielen Städte-Rankings kann ihr nur eine andere subjektive Einschätzung gegenüber gestellt werden. Welches Narrativ von den Lesenden dann als passender für ihr jeweiliges Stimmigkeitsgefühl empfunden wird, hängt von ihren Vorgeschichten und den daraus resultierenden Wertekriterien ab.
Und damit bin ich bei einem dritten Aspekt – dem Zeitfaktor oder der Verwechslung von Ursache und Wirkung. Weltbilder formen bzw. verändern sich meistens so langsam, dass man es sogar an sich selber kaum bemerkt. Wenn ein traditioneller SP-Wähler plötzlich SVP wählt, steckt dahinter eher ein langer und schmerzlicher Prozess als ein abrupter Wandel. Abrupt ist nur die Manifestation des Wandels, der Prozess ist verdeckt. Meistens brauchte es nur noch einen vergleichsweise kleiner Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und weil es ein langer Weg von kleinen Schritten war, kann der Wandel auch kaum differenziert erläutert werden. Meistens wird als Gefühl wahrgenommen, dass etwas nicht mehr stimmig sei, und politische Profiteure bieten kurze und einfache Erklärungen an, z.B. dass zugewanderte Menschen bei Steuergeld- und Arbeitsplatzvergabe bevorzugt werden. Das neue Verhalten ist somit nicht Ursache, sondern nur der Ausdruck, das Symptom. Wenn mein Gegenüber nur mein aktuelles Verhalten kritisiert, ohne die dahinterliegende Geschichte zu würdigen, prallt die Kritik an mir ab. Allenfalls wird durch die ungeschickte Kritik – ganz im Kontrast zu ihrer Absicht – mein Trotz aktiviert und damit die aktuelle Position sogar noch verfestigt. Auch wenn sich Wählende von Trump, AfD, Cinque Stelle etc. fremdenfeindlich manifestieren, dürfte dieses Etikett von ihnen wohl eher als undifferenziert und diffamierend empfunden werden. Fehlentwicklungen mit langer und schleichender Geschichte können wohl nur selten schnell korrigiert werden. Wenn ich mich von einer Gruppe nach und nach ausgeschlossen fühle, brauche ich wohl viel Beziehungsaufbau, um das Vertrauen wieder herzustellen. Dann aber kann sich ein Phänomen zeigen, für das der Volksmund schon lange eine Erklärung hat: Lügen haben kurz Beine.
Entsprechend wünsche ich Ihnen viel Energie für Beziehungspflege.
Februar 2018
Verhindert Solidarität gesellschaftliche Reformen?
Der Befund ist nicht neu – die zunehmende Individualisierung bewirke eine steigende Entsolidarisierung. Nach meiner Wahrnehmung der mitteleuropäischen Medien scheint der sogenannte Klimawandel trotz bürgerlicher Dominanz in unseren geografischen Breiten beschlossene Sache zu sein. Doch obwohl die Angst vor drohenden Konsequenzen dieser Erwärmung gemäss Umfragen seit Jahren in breiten Bevölkerungskreisen zu den grössten Bedrohungen zählt, reduziert sich zum Beispiel die ressourcenintensive Mobilität offenbar vor allem bei den Menschen, deren Haushaltsbudget auf Grund prekärer Erwerbseinkommen massiv geschrumpft ist. Die „Demokratisierung der Mobilität“, die nach dem zweiten Weltkrieg in den industrialisierten Ländern eingesetzt hat, scheint sich wieder zu kehren. Wer sich viele und weite Mobilität mit Verkehrsmitteln (also nicht mit körpereigener Energie) leisten kann, markiert damit auch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse. Doch was sind die guten Gründe, dass ich mich trotz meiner Sorge vor einem Klimakollaps klimabelastend und somit unsolidarisch verhalte? Allenfalls sage ich mir, dass mein Reisen den interkulturellen Dialog bestärkt. Dieses Argument hat für mich jedoch reichlich kolonialistisch-arrogante Elemente, wenn ich den WWF-Hinweis bedenke, dass nur rund 5% der Weltbevölkerung je in einem Flugzeug sass (https://www.wwf.ch/de/unsere-ziele/flugverkehr). Oder ich sage mir, dass die individuellen Profite von klimaschädlichem und unsolidarischem Verhalten (z.B. der oben angesprochene soziale Status) noch zu gross sind im Vergleich zum Profit für ressourcenschonendes und solidarisches Verhalten, und dass es folglich für alle verbindliche Regeln auf Gesetzesebene brauche, z.B. ökologische Steuern oder was auch immer.
Lässt sich daraus allenfalls ableiten, dass solidarisches Verhalten (im Sinne von umweltfreundlichem Verhalten) zurzeit kontraproduktiv ist, weil dadurch der faktenschaffende Druck für politische Veränderungen dezimiert wird?
Januar 2018
Sind Emotionen irrational? Falls ja – wie weiter?
Im Leserbrief zu einem Artikel über Pflegepersonal, das sich nicht impfen lassen will, hat eine Psychiaterin den Schluss gezogen, dass solches Verhalten irrational sei und sich somit jeglicher sachlichen Argumentation entziehe.
Was immer die gute Absicht der Psychiaterin war, auf mich wirkt ihre Haltung gegenüber irrationalem Verhalten diffamierend. Denn einen Grossteil meines Verhaltens könnte ich spontan nicht rechtfertigen, ich verhalte mich meistens affektiv, unbewusst und somit irrational. Und beim Beobachten meiner Umgebung wirkt das ganz normal – wo kämen wir hin, wenn alles zuerst durchdacht werden müsste. Wohl reflektiere ich Feedbacks auf mein Verhalten. Daraus kann einerseits Bewusstheit, anderseits Verhaltensveränderung resultieren. Allerdings erscheint mir mein Leben zu vielschichtig und komplex, als dass ich es rational begreifen könnte – nebst meinen blinden Flecken hinke ich mit meinen Erkenntnissen den Ereignissen stets hinterher. Muss ich mir deswegen Asche aufs Haupt streuen, wie das die Psychiaterin suggeriert? Natürlich habe ich mich auch schon geärgert, weil eine Erkenntnis oder eine Verhaltensänderung nicht oder nur schleppend erfolgte, sei es bei mir selber oder bei einem Gegenüber.
Im Magazin des Tages Anzeigers vom 20.01.2018 habe ich von der sächsischen Ministerin für Gleichstellung und Integration gelesen, sie habe das Zuhören zum politischen Prinzip gemacht. In dem ostdeutschen Bundesland ist der Anteil von sogenannt „rechtsnationalistischen“ Parteien bei den letzten Wahlen stark gestiegen. Obwohl der Prozentsatz von zugewanderten Menschen dort im gesamtdeutschen Vergleich sehr tief ist, sei die Fremdenfeindlichkeit überdurchschnittlich hoch. Beim Besuch der Ministerin verfügten die Leute zunächst nur über die parteipolitisch vermittelten Standardargumente, mit denen sie den irrational wirkenden Widerspruch zwischen realer und gefühlter Bedrohung durch Fremde jedoch nicht auflösen konnten. Doch trotz Erklärungsnot hätten sie das Gefühl, irgendwie im Recht zu sein. Indem sich die Ministerin für die Nöte der Leute interessierte, bot sie ihnen eine Beziehung an. Erst als das Angebot angenommen wurde, erfuhr sie sehr reale Geschichten, die in ihrer Komplexität typisch sind für das Leben. Aus der Distanz einerseits sowie der Summe der Geschichten anderseits kristallisierte sich bei der Ministerin ein starkes Motiv für das irreal wirkende Verhalten heraus – Scham. Die aktuelle Stimmung scheint nämlich auch die Folge der deutschen Wiedervereinigung zu sein, deren Abwicklung im Osten als brutal und äusserst arrogant wahrgenommen wurde. Das resultierende Schamgefühl wird als sehr unangenehm empfunden, entsprechend lauern die Menschen auf ein Ventil, um den Druck abzulassen. Auch die Historikerin Ute Frevert zeigt als Leiterin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ des Max-Planck-Instituts in ihrem Buch „Politik der Demütigung“, dass Beschämung und Diffamierung eine zentrale Bedeutung haben – sowohl für individuelle wie für gesellschaftliche Reaktionen.
Auch irreal wirkendes Verhalten scheint also gute Gründe zu haben, nur stehen die Ursachen halt oft in einem sehr verwinkelten Zusammenhang mit den Symptomen, und können somit nur schwer erfasst werden. Fairerweise müssten wir meines Erachtens demnach sagen, dass die Verwendung des Begriffs „irrational“ wohl mehr über den Verständnismangel der zuschreibenden Person – z.B. der oben erwähnten Psychiaterin – aussagt als über die Rationalität der beschriebenen Person. Mir scheint es passender, den defizitären Begriff „irrational“ durch eine Ressource zu ersetzen – indem wir der kognitiven Rationalität eine emotionale Rationalität zur Seite stellen.
Dezember 2017
Was passiert, wenn ich Anerkennen erfahre?
Im Jahresschluss-Leitartikel des Tages Anzeigers fordert die Chefredakteurin mehr kritischen Journalismus. Sie bezieht sich dabei auf das Vorfeld von Volksbefragungen wie die Brexit-Abstimmung oder die Wahl von Donald Trump. Die meisten etablierten Medien wurden von den beiden Ergebnissen völlig überrascht. Um diese Schmach zu lindern, wird die Ursache des Debakels gerne den „Fake-News“ zugeschrieben. Fake-News benennen meines Erachtens jedoch nur einen Teil der Wahrheit, denn ich habe nicht den kritischen, sondern den empathischen Journalismus vermisst. Nach meiner Wahrnehmung hat der „kritische Journalismus“ genau das Gegenteil seiner Ziele erreicht. Das Zielpublikum empfand die „Richtigstellungen“ der etablierten Medien als Bestätigung seiner Empfindung, dass eben diese Medien elitär sind und keine Ahnung haben von der Realität der sozialen Verlierer. Natürlich kann Propaganda das politische Klima beeinflussen. Resonanz kann Propaganda jedoch nur auslösen, wenn ihre Botschaft nicht in Opposition steht mit dem Befinden des Zielpublikums. Steht das Befinden des Zielpublikums jedoch bereits in Opposition mit den etablierten Medien, stacheln kritische Faktenchecks dieser Medien den Widerstand der Leute meistens erst recht an.
Gemäss Selbstbeobachtung erreichen mich mir gegenüber kritische Position am ehesten, wenn meine Position zunächst anerkannt und gewürdigt wird – das heisst, wenn die Kritik aus meiner Optik empathisch ist. Die sogenannten Populisten hatten ein gutes Gespür für das Befinden der Bevölkerung, denn sie würdigten dieses Befinden und lösten damit Resonanz aus.
Ich freue mich auf die künftige Dynamik, wenn etablierte Medien eine differenziertere Haltung gegenüber dem Populismus entwickeln. Wenn sie zum Beispiel – anstatt fremdenfeindliche Ressentiments zu verurteilen – zunächst die guten Gründe für die Ressentiments erkennen und würdigen. Sie können dem Gegenüber damit eine Beziehung auf Augenhöhe anbieten, um dann die eigene Geschichte zu erzählen, einfach nur als Angebot, ohne rechthaberischen Anspruch. Damit setzten sie dem schlichten Populismus einen auf Beziehung basierenden – ergo einen relativen Populismus entgegen.
Dialog-Konstruktiv lotet in seiner Praxis immer wieder die Möglichkeit aus, privat erlebte Muster auf gesellschaftliche Belange zu übertragen. Oder umgekehrt – gesellschaftliche Phänomene im eigenen Verhalten zu erkennen. Daraus entfaltet der Dialog aus meiner Optik eine zivilisationsförderned Wirkung.
November 2017
Dialogisches Schmankerl
Vor kurzem bin ich auf ein Angebot zum Feuerlaufen gestossen, das meinen „Gwunder“ potenzierte und meine Skepsis dezimierte (www.feuerlaufen.ch). An dieser Stelle nur das Kurzfazit: die Erfahrung hat sich für mich sehr gelohnt. Dass ich dieses Erlebnis hier erwähne, beruht auf der Aussage des Feuerlauf-Leiters, dass Feuerläufe nur in der Gruppe Sinn machen. Offenbar hat er sich trotz seiner grossen Erfahrung bei einem „Sololauf“-Experiment tatsächlich Verbrennungen zugezogen. Rückblickend wird es mir immer deutlicher, welch bestärkenden Einfluss die Gruppe auf meinen „Erfolg“ hatte. Natürlich ist mir somit auch die Parallele zum Dialog aufgefallen. Obwohl ich einerseits viel Zeit für meine Selbstreflexion brauche und anderseits mit Teams auch schon gute Erfahrungen gemacht habe, wurden mir bestimmte Erkenntnisse erst durch die spezifischen Bedingungen der Dialoggruppe möglich.
Ein eindrückliches Beispiel dazu gibt mir der letzte Dialog (Thematischer Dialog mit dem Philosophen Imre Hofmann). Unter anderem ging es dabei für mich um die Frage, ob es menschliches Verhalten gibt, das verurteilt werden kann – oder gar verurteilt werden muss. Der sogenannte „radikalen Konstruktivismus“ verneint die Frage, weil dabei das Prinzip verletzt würde, dass jedes Individuum stets die ihm am sinnvollsten scheinende Option wählt. Mit der „am sinnvollsten scheinende Option“ ist gemeint,
-
dass die „Entscheidung“ für ein bestimmtes Verhalten mit den im Moment zur Verfügung stehenden Ressourcen gefällt wird. Wenn ich z.B. hungrig oder müde bin, ist meine Souveränitäts-Ressource eingeschränkt, mein Mix aus bewussten und unbewussten Entscheidungselementen fällt somit sehr wahrscheinlich dünnhäutiger aus. Auch wenn ich mein daraus resultierendes Verhalten im Nachhinein bedauere, habe ich im Moment „mein Bestes“ gegeben und bin somit im moralischen Sinn unschuldig. Eine Verurteilung kann ich allenfalls zwar rational nachvollziehen, und dennoch emotional als ungerecht empfinden, weil ein Massstab angewendet wird, der mich überfordert. Und wer hat solche Überforderungen nicht schon als Respektverweigerung empfunden?
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dass die Entscheidung nicht egoistisch, sondern im „Bewusstsein“ des sozialen Kontextes geschieht. Auch wenn ich weiss, dass z.B. meine Wutreaktion die Beziehung zu meinem Gegenüber nicht nur strapaziert, sondern gar negative Konsequenzen für mich haben kann, gelingt es mir mit meinen aktuellen Ressourcen oftmals nicht, stattdessen sachlich von meinen Bedürfnissen zu sprechen.
Analog zur Systemtheorie geht der radikale Konstruktivismus davon aus, dass das Muster des moralisierenden Verurteilens genauso auf gesellschaftlicher und politischer Ebene abläuft. Natürlich sind die „guten Gründe“ für ein bestimmtes Verhalten in komplexeren Systemen entsprechend komplexer gestrickt. Im Dialog wurden die Mafia, Nazis und Lebensmittelspekulation als Beispiele analysiert und die Frage gestellt, ob ein „gemässigter Konstruktivismus“ nicht richtiger sei als der „radikale Konstruktivismus“. Mein affektives Bedürfnis, Mafia, Nazis und Lebensmittelspekulation zu verurteilen, steht im Gegensatz zum kognitiven Bedürfnis, andern den gleichen Respekt zukommen zu lassen, den ich selber von andern benötige. Diese sogenannte „kognitive Dissonanz“ empfinde ich als sehr unangenehm, sie strebt nach Auflösung. Im Verlauf des Dialogs wurde ich nun an ein Reaktionsmuster erinnert, das ich im Septembertext angesprochen hatte: die Tendenz, bestimmte Situationen oder Fragestellungen als zweipoliges Dilemma zu empfinden und in den „entweder/oder-Modus“ zu verfallen. Bin ich bezüglich Konstruktivismus wieder in die gleiche Falle getappt? Entweder „radikal“ oder „gemässigt“?
Eine Qualität des Bohmschen Dialogs liegt für mich darin, dass er Lösungen ausserhalb der Zweipoligkeit anstrebt. Diese Lösungsfindung wird durch Homogenität (gleiche Ansichten der Gesprächsteilnehmenden) reduziert und entsprechend durch Diversität optimiert. Und prompt hat mir die Gruppe zur vorläufigen Erkenntnis verholfen, den Konstruktivismus (Bewertungen wie „gut“ und „böse“ haben keine objektive Berechtigung) nicht als Widerspruch zur Ethik (was ist „gut“ und „böse“?) zu begreifen, sondern als Ergänzung. Schon im Septembertext erlösten wir die entweder/oder-Frage (Kopf oder Bauch) letztlich durch das „sowohl als auch“. Konstruktivismus ohne Ethik wäre somit wohl reiner Anarchismus, Ethik ohne Konstruktivismus jedoch moralinsäuerliche Dogmatik.
Oktober 2017
Konstruktivismus – Haben Menschen immer gute Gründe für ihr Verhalten?
Was kann ich machen, wenn mir Trump-Speech und Social-Media immer mehr Sorge bereiten? Vor kurzem wurde der Fall einer Schülerin bekannt – offenbar der erste Suizid in der Schweiz, der nachweislich durch Cybermobbing initiiert wurde. Für viele Leute scheint es die authentischste Art der Frustbewältigung und Selbstbehauptung zu sein, das Befremdende und Andersartige zu beleidigen und zu diffamieren. Einerseits kann ich das gut nachvollziehen – wenn ich in emotionale Enge komme, habe ich auch kaum Energie für differenzierendes Wohlwollen. Anderseits ist das für mich nur die halbe Wahrheit. Denn je mehr ich das differenzierende Wohlwollen praktiziere, desto leichter kann ich es in Frustsituationen anwenden, um Eskalationssituationen zu versachlichen und eben nicht in die unterste Schublade greifen zu müssen.
Der „Dialog nach David Bohm“ bietet eine Haltung bzw. ein Menschenbild an, das uns Verhaltensmuster bewusst werden lässt, welche zur Diffamierung führen. Und aus der Analyse dieser Muster resultieren alternative Verhaltensmuster. Angesichts der verheerenden Wirkung aggressiver und diffamierender Alltagssprache, wie sie sich z.B. in den Sozialen Medien zeigen, kommt dem Dialog nebst der persönlichen somit auch eine immense gesellschaftliche Bedeutung zu. Entsprechend wird der Dialog bereits an diversen Volksschulen eingesetzt, um Diffamierungsalternativen als selbstverständliche Muster bei den Kindern zu verankern. Dialog-Konstruktiv bietet ein Setting, um das dialogische Menschenbild kennenzulernen, die entsprechenden Methoden zu praktizieren und mit unmittelbaren Erfolgen zu festigen.
Dialog-Konstruktiv bezieht sich mit seinem Namen auf ein Segment der Philosophie, das sich Erkenntnistheorie nennt. Die Erkenntnistheorie kann als Sammlung verschiedener Denkmodelle verstanden werden. Diese Modelle beschäftigen sich mit der Frage, wie wir Menschen uns selber wahrnehmen. Ein bedeutendes Denkmodell ist der Konstruktivismus. Er geht davon aus, dass das Bild, das wir von unserer Umgebung haben, sich nicht ganz so passiv und „automatisch“ bildet, wie es zunächst scheint, sondern dass wir uns unsere sogenannte „Wirklichkeit“ selber konstruieren. Denn unsere Wahrnehmung verändert sich bekanntlich je nach Verfassung. Wenn ich beim Einkauf hungrig bin, wirkt das Angebot auf mich doch verführerischer als wenn ich satt bin. Für mich ergibt sich daraus, dass meine sinnliche Wahrnehmung zwar nur bedingt von meinem Bewusstsein, aber dennoch von meinem Wesen gestaltet bzw. eben konstruiert wird.
Doch wenn jedes Individuum sich permanent seine eigene Weltsicht konstruiert, wie sieht es dann aus mit der Wahrheit oder der Objektivität? Der Konstruktivismus hat deshalb die zentrale Bedeutung für den Dialog, weil er die Unterscheidung in Gut und Bös als willkürlich interpretiert – und „das Böse“ darum eliminiert. Stattdessen interessiert er sich für die „guten Gründe“, die hinter einem bestimmten Verhalten stecken. Dieser Respekt dem Andersartigen gegenüber umfasst natürlich, dass ich das Befremdende nach meiner subjektiven Empfindung ablehnen kann. Wer wird nicht lieber subjektiv abgelehnt statt objektivierend verurteilt?
Was Skeptiker als gravierenden Schönheitsfehler empfunden, hat für viele Anhänger des Konstruktivismus die Ästhetik einer “Weltformel“: die Annahme, dass jede Handlung gute Gründe hat und somit aus der Optik des handelnden Individuums im moralischen Sinn nicht verurteilt werden kann. Denn Systeme können sich aus Selbsterhaltungsgründen nicht suboptimal verhalten. Das heisst, im Moment ihrer Entscheidung ist für Systeme (Individuen, Gesellschaften etc.) das optimal, was ihre Ressourcen ermöglichen – alles andere ist Überforderung. Um diese absolute Klarheit gegen Relativierungsversuche abzugrenzen, sprachen die Vordenker des Konstruktivismus im letzten Jahrhundert konsequenterweise vom „radikalen Konstruktivismus“ – ein „bisschen Konstruktivismus“ sei genauso unmöglich wie ein „bisschen schwanger“. Denn sobald wir anfangen, gewisse Handlungen amoralisch zu bewerten, taucht die Frage auf, ob diese Grenze nicht ebenso willkürlich und somit ein Instrument von Machtinteressenten ist. Und wie falsch die Ansicht ist, die Mehrheit definiere die Wahrheit, zeigt das Beispiel von Galileo Galilei – es gab nur ganz wenige, die seinem Konzept folgten, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Will eine Gesellschaft jedoch bestimmte Verhaltensmuster verhindern (z.B. Steuern hinterziehen, Kinder schlagen etc.), kann sie dafür einen normativen Verhaltenskodex erlassen (Gesetze) und die Schuldklärung sowie Verurteilung einem durch die Gesellschaft legitimierten Rechtswesen (Gericht) übertragen. Das heisst, sowohl physische wie psychische Gewalt soll dem Affekt entzogen werden und wird darum an Spezialisten delegiert, die das subjektive Einzelinteresse gegen das Interesse der Gemeinschaft abwägen. Wie das Lustpotential von Gewalt dann kompensiert wird, ist wiederum eine andere Frage.
Fraglich ist ebenso, ob sogenannte Fakenews im Sinne von Diversity Management konsequenterweise nicht auch als mehr oder weniger bereichernde Wirklichkeitskonstruktionen willkommen sein müssten? Lässt sich eine Grenze zwischen den erwünschten und den unerwünschten Aspekten des Konstruktivismus ziehen? Oder ist die aktuelle Häufung von Frustbewältigung durch Diffamierung in der Gesellschaft (Wutbürger) nur das Symptom einer momentanen kollektiven Überforderung, ausgelöst durch den Wegfall der alten Autoritäten sowie der Verunsicherung durch zunehmende individuelle Freiheiten (Multioptionsgesellschaft) und dem damit einhergehenden Komplexitätszuwachs? Ist die aktuell so deprimierend wirkende Weltlage somit allenfalls eine notwendige Eskalationsphase, um besonnener in eine nächste Phase aufbrechen zu können?
Spezial-Dialog am Samstag, 28. Oktober 2017 – im Foyer Wandelbar, Zollikerstrasse 74, 8008 Zürich:
Dialog-Konstruktiv versammelt bereits seit einem Jahr monatlich eine stets changierende Gruppe von Leuten, die leidenschaftlich gerne mit Sprache ihre Tiefe ausloten. Darüber freue ich mich sehr und plane als Dankeschön einen zweiteiligen Spezialanlass:
13:30 – 15:30 |
Philosophischer Dialog mit Gast zum Thema „Konstruktivismus“
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Pause mit Goodies |
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16:00 – 18:00 |
„Nichts passiert“, Film des Schweizer Regisseurs Micha LewinskyDer Film zeichnet das differenzierte Bild eines vom Leben permanent überforderten Mannes (Darsteller: Devid Striesow). Wir spielen die für die Charakterisierung relevanten Szenen. Danach dialogischer Austausch. Dabei fokussieren wir auf die „guten Gründe“, die das Verhalten des Protagonisten initiierten. |