Kann ich
„nicht bewerten“?

Mein Bewerten stellt Weichen.

 

BuddahNach meiner Beobachtung verursachen Bewertungen immer wieder grosse Konflikte. Häufig höre ich in meiner Praxis, dass Menschen auf Grund von schmerzvollen Erfahrungen die Empfehlung bekamen, nicht zu bewerten.

Auch östliche Religionen werden oft so verstanden, dass nicht gewertet werden dürfe. Doch dieser Appell versetzt die Leute in eine Zerrissenheit, weil sie die affektive (unbewusste) Bewertung nicht steuern und somit auch nicht eliminieren können. Hilfreicher ist für mich der Apell, nicht zu verurteilen.

 

Dazu stelle ich mir zwei Bewertungszentren vor – das Gross- und das Kleinhirn. Im Kleinhirn finden Primär-, im Grosshirn Sekundärbewertung statt. Als Primär- oder Affektbewertung bezeichne ich Bewertungen, die unmittelbar und ohne bewusste Reflexion nach Empfang einer Wahrnehmung passieren. Verhindern kann ich diese spontanen – positiven und negativen – Bewertungen nicht, dafür kann ich sie durch mein Bewusstsein (kognitiv) aktiv zur Kenntnis nehmen und als Primärbewertung akzeptieren. Abschliessend kann ich die Primärbewertung mit meinem Bewusstsein reflektieren und zu einer Sekundärbewertung gelangen. So kann ich beispielsweise eine Person, die mich unbeabsichtigt erschreckt, zunächst affektiv verurteilen („blöde Siech!“), um nach der Schreckenssekunde erleichtert festzustellen, dass ich nicht bedroht bin und somit die mentale Verurteilung samt dem Impuls zum „Gegenangriff“ wieder neutralisieren.

Bin ich in der Verurteilung einer bestimmten Situation oder einer Person, sage ich damit nichts aus über die Situation bzw. die Person, sondern nur darüber, dass ICH noch in der negativen Bewertung stecke und die guten Gründe für den jeweiligen Sachverhalt noch nicht erkannt habe. Vereinfachend spreche ich statt von Situationen und Personen von Systemen. Mit dem Prinzip des „guten Grundes“ gehe ich davon aus, dass Systeme sich im Moment, wo sie sich für einen nächsten Schritt entscheiden müssen, nicht suboptimal entscheiden können. Auf mich bezogen heisst das z.B., dass ich stets den Schritt gewählt habe, der mir im Moment – und innerhalb meiner systemischen Möglichkeiten – als der beste bzw. am wenigsten schlimmste Schritt erschienen ist. Und da ich gemäss dieser Logik keine Chance hatte, mich anders zu verhalten, kann ich mich im moralischen Sinn auch nicht schuldig fühlen. Nicht schuldig fühlen bedeutet für mich, mit mir selber im Frieden sein. Negative Erfahrungen baue ich als lernendes und soziales Wesen automatisch in mein künftiges Verhalten ein, so gut es mir im Moment möglich ist.

Juristisch kann ich mich natürlich nicht hinter meinen „guten Gründen“ verstecken, wenn ich z.B. im Affekt gegen ein Gesetz verstossen habe. Weil ich gemäss der konstruktivistischen Annahme jedoch meine Gefühle und affektiven Reaktionen selber konstruiere, übernehme ich die Verantwortung auch für mein unbewusstes und affektives Verhalten.